Die Biene Maja und ihre Abenteuer

Waldemar Bonsel (Autor)

Inhaltsangabe

Kapitel 9 Hannibals Kampf mit dem Menschen

In der Nähe der Baumhöhle, in der die kleine Maja ihre Sommerwohnung aufgeschlagen, hatte sich in der Rinde der Kiefer der Borkkäfer Fridolin mit seiner Familie angesiedelt. Er war ein arbeitsamer und ernster Mann, der viel Sorgfalt auf die Fortpflanzung seiner Familie legte und es auf diesem Gebiet zu hübschen Erfolgen gebracht hatte. Er sah mit Stolz auf etwa fünfzig regsame Söhne zurück, die alle zu den besten Hoffnungen berechtigten. Sie gruben sich unter der Baumrinde jeder seinen kleinen gewundenen Kanal und fühlten sich darin wohl.

»Meine Frau hat es so eingerichtet, dass keiner dem anderen in die Quere kommt«, sagte Fridolin zu Maja. »Meine Söhne kennen sich noch nicht, ihre Lebenswege gehn alle nach verschiedenen Richtungen.«

Maja kannte Fridolin schon lange. Sie wusste wohl, dass die Menschen ihn und sein Geschlecht nicht eben liebten, aber sie selbst fand sein Wesen und seine Gesinnungsart sehr liebenswürdig und hatte bisher nicht Grund gehabt, ihn zu meiden. Morgens, wenn der Wald noch schlief und die Sonne noch nicht aufgegangen war, hörte sie oft sein feines Pochen und Bohren, ganz leise klang es wie ein feines Rieseln, oder als atmete der Baum im Schlaf. Später fand sie dann den dünnen braunen Staub, den er aus seinem Gang geschafft hatte.

Eines Morgens kam er früh zu ihr, wie er es oft tat, und erkundigte sich danach, ob Maja gut geschlafen habe.

»Fliegen Sie heute nicht?« fragte er.

»Nein,« sagte Maja, »es ist zu windig.«

Das war es in der Tat. Der Wald brauste und schüttelte seine Äste wild und aufgeregt, und die Blätter an seinen Zweigen sahen aus, als ob sie fortflattern wollten. Jedesmal, wenn wieder ein Windstoß kam, wurde es etwas heller umher, und man hatte den Eindruck, als wären die Bäume um vieles kahler. In der Kiefer, auf der Fridolin und Maja lebten, pfiffen die Stimmen des Windes mit ganz hellem Sausen, es klang, als ob der Baum erregt und zornig sei.

Fridolin seufzte. »Ich habe die ganze Nacht gearbeitet,« erzählte er, »was bleibt einem übrig? Man muss sehn, dass man etwas erreicht. Ich bin auch mit dieser Kiefer nicht recht zufrieden, ich hätte mich an eine Tanne heranmachen sollen.« Er trocknete sich die Stirn und lächelte nachsichtig.

»Wie geht es Ihren Kindern?« fragte Maja freundlich.

Fridolin dankte. »Ich überseh die Sache nicht mehr recht,« sagte er zögernd, »aber ich gebe mich der Hoffnung hin, dass alle gedeihn.«

Wie er so dasaß, ein kleiner brauner Mann, mit seinem Brustschild, das aussah wie ein viel zu großer Kopf, und seinen kurzen, etwas gestutzten Flügeldecken, fand Maja, dass er beinahe etwas komisch wirkte, aber sie wusste wohl, dass er ein gefährlicher Käfer war und den mächtigen Waldbäumen großen Schaden tun konnte. Fiel sein Volk in großen Scharen über einen Baum her, so war es bald um seine grünen Nadeln geschehen, er musste welken und sterben und hatte keine Mittel, sich gegen die kleinen Räuber zu wehren, die ihm seine Rinde zerstörten, durch die der Saft in die Wipfel steigt. Man erzählte, dass seinem Volk schon ganze Wälder zum Opfer gefallen seien. Maja betrachtete ihn nachdenklich, und ihr ward ganz feierlich zumute, wenn sie bedachte, wie bedeutungsvoll und mächtig dies kleine Tier werden konnte.

Da seufzte Fridolin und sagte bekümmert. »Ach, das Leben wäre schön, wenn es keine Spechte gäbe.«

»Ja, ja,« nickte Maja, »der Specht, das ist wahr, er frisst auf, was er findet.«

»Wenn es nur das wäre,« meinte Fridolin, »wenn leichtsinnige Leute, die sich außen auf der Rinde umhertreiben, ihm als Beute zufielen, würde ich sagen: Gut, schließlich will auch ein Specht leben. Aber ich finde es unverantwortlich, dass dieser Vogel einen bis unter die Rinde verfolgt, bis in die Schlupfwinkel und bis tief in unsere Gänge hinein.«

»Nein,« sagte Maja, »das kann er nicht. Dazu ist er zu groß, soviel ich weiß.«

Fridolin sah Maja mit hochgezogenen Brauen an und nickte ein paarmal gewichtig mit dem Kopf. Es machte ihm offenbar Spaß, dass er etwas besser wusste.

»Zu groß?« fragte er, »wer spricht von seiner Größe? Nein, meine Liebe, seine Größe ist es nicht, die uns besorgt macht, sondern seine Zunge.«

Maja machte große Augen, und nun erfuhr sie von Fridolin, dass der Specht eine lange dünne Zunge hat, rund wie ein Wurm, und spitz und klebrig. »Zehnmal so lang, wie ich es bin, kann er sie mindestens herausstrecken«, rief der Borkkäfer und schwenkte den Arm. »Man denkt, jetzt ist sie zu Ende, da wird sie noch länger. Er schiebt sie, gewissenlos wie er ist, tief in alle Spalten und Risse der Rinde und denkt: vielleicht sitzt jemand darin. Sogar in unsere Kanäle dringt diese Zunge ein, Gott weiß es, und was mit ihr in Berührung kommt, klebt daran fest und wird herausgezogen.«

»Ich bin nicht feige,« sagte Maja, »bestimmt nicht, aber diese Tatsache macht mich doch recht besorgt.«

»Ach, Sie mit Ihrem Stachel haben es gut«, meinte Fridolin nicht ohne Neid. »Jeder besinnt sich, eh er sich in die Zunge stechen lässt, fragen Sie, wen Sie wollen. Aber was soll unsereiner sagen? Meine Cousine hat es durchgemacht. Wir hatten vorher einen kleinen Streit wegen meiner Frau gehabt, ich weiß noch alles genau, sie war bei uns auf Besuch und kannte die Wohnungsverhältnisse noch nicht so recht. Mit einmal hören wir den Specht scharren und klopfen, es war einer von den kleineren Sorten. Er muss grade bei unserem Bau angefangen haben, sonst hört man ihn gewöhnlich schon vorher und bringt sich in Sicherheit. Plötzlich höre ich meine bedauernswerte Cousine aus dem Dunkel schrein: ›Fridolin, ich klebe!‹ Ich vernahm noch ein verzweifeltes Zappeln, dann wurde es still, und der Specht hämmerte schon nebenan. Um meine Cousine war es geschehn, sie war bereits verschlungen. Sie hieß Agathe.«

»Fühlen Sie mal, wie mein Herz klopft,« sagte Maja leise, »Sie hätten es nicht so rasch erzählen sollen. Was doch alles passiert in der Welt!« Und die kleine Biene dachte an ihre eigenen Erlebnisse, die zurücklagen, und an alles, was ihr vielleicht noch begegnen könnte.

Da fing Fridolin plötzlich an zu lachen.

Maja sah sich überrascht nach ihm um.

»Passen Sie auf,« rief er, »jetzt kommt der Richtige den Baum herauf, das ist einer, sage ich Ihnen. Nun, Sie werden ja sehn.«

Maja folgte seinen Blicken und sah ein merkwürdiges Tier langsam den Baum emporklimmen. Sie hatte niemals für möglich gehalten, dass es solche Tiere gab. Aber größer als ihr Erstaunen war anfangs ihre Angst, und sie fragte Fridolin hastig, ob man sich verbergen müsste.

»Kein Gedanke,« sagte der Borkkäfer, »bleiben Sie getrost sitzen und begrüßen Sie den Herrn höflich. Er ist sehr gelehrt und hat wirklich ernste Kenntnisse, dabei ist er gutherzig und bescheiden und wie alle Leute, die so beschaffen sind, etwas komisch. Schauen Sie, was er tut!«

»Wahrscheinlich denkt er nach«, meinte Maja, die nicht aus dem Erstaunen herauskam.

»Er kämpft gegen den Wind,« sagte Fridolin und lachte, »wenn ihm nur seine Beine nicht durcheinandergeraten.«

»Sind denn diese langen Fäden wirklich seine Beine«, fragte Maja mit großen Augen. »So was hab’ ich nie gesehn.«

Inzwischen war der Fremde näher gekommen, und Maja sah ihn genauer. Eigentlich sah es aus, als käme er durch die Luft, so hoch hing sein kleiner, rundlicher Körper in den ungeheuer langen Beinen, die wie ein fadendünnes, bewegliches Gestell, weit von ihm ab, nach allen Seiten hin Halt suchten. Er schritt vorsichtig und tastend voran, dabei schwankte das braune Kügelchen seines Körpers bald höher hinauf, bald wieder hinab. Die Beine waren so lang und dünn, dass ein einzelnes sicher den Körper nicht hätte tragen können, er brauchte sie unbedingt alle zusammen, und da sie in der Mitte geknickt waren, überragten sie ihn hoch bis in die Luft hinein.

Maja schlug die Hände zusammen.

»Nein so was!« rief sie. »Aber hätten Sie für möglich gehalten, dass so zarte Beine, dünn wie Haare, so beweglich und nützlich sein können, dass man sie wirklich gebrauchen kann, und dass sie wissen, was sie tun sollen? Ich finde, das ist ein Wunder, Fridolin.«

»Ach was,« sagte der Borkkäfer, »wenn etwas komisch ist, so lacht man, damit basta.«

»Ich habe aber keine Lust dazu,« antwortete Maja, »oft lacht man über etwas, und später stellt sich heraus, dass man es nur nicht verstanden hat.«

Da war der Fremde herangekommen, er schaute von der Höhe seiner Beine, aus all den spitzen Dreiecken heraus, auf Maja nieder und sagte: »Guten Morgen! Ein rechter Brausewind, meine zwei Herrschaften, ein Zuglüftlein recht derber Art, nicht wahr, oder wie? Meinten Sie vielleicht etwas anderes?« Und er hielt sich fest, so gut er konnte.

Fridolin verbarg sein Lachen, aber die kleine Maja antwortete höflich, das sei auch ihre Meinung, deshalb sei sie heute nicht ausgeflogen. Dann stellte sie sich vor. Der Fremde schielte durch seine Knie hindurch auf sie nieder.

»Maja, vom Volk der Bienen,« wiederholte er, »das freut mich aufrichtig, ich habe viel von den Bienen gehört. Ich muss Ihnen gestehn, dass ich immer etwas in Verlegenheit gerate, wenn ich mich jemandem vorstellen soll, denn unsere sehr verbreitete Familie ist unter den verschiedensten Namen bekannt. Man nennt uns Weberknechte, Schneider oder Schuster. Jedenfalls gehöre ich zur Gattung der Spinnen, und mein Rufname ist Hannibal.«

Die Namen der Spinnen haben einen bösen Klang bei allen kleineren Insekten, Maja konnte ihren Schreck nicht ganz verbergen, zumal sie ihrer Gefangenschaft bei der Spinne Thekla gedachte; aber Hannibal schien nichts davon zu merken. Sie dachte, wenn es sein muss, flieg’ ich, da kann er mir nachschauen, Flügel hat er nicht, und sein Netz ist anderswo.

»Ich bin in Gedanken, sehr in Gedanken,« sagte Hannibal, »wenn Sie erlauben, trete ich etwas näher, dort hinter dem großen Ast bin ich geschützt.«

»Bitte schön«, sagte Maja und machte Platz. Fridolin verabschiedete sich, aber die kleine Biene wollte nun doch gerne wissen, was es mit Hannibal für eine Bewandtnis hätte. Was es doch alles für Tiere in der Welt gibt, dachte sie, immer wieder entdeckt man irgendein neues.

Der Wind hatte etwas nachgelassen, und die Sonne schien durch die Baumzweige. Irgendwo unten im Buschwerk stimmte ein Rotkehlchen sein Lied an und erfüllte den Wald mit Glück. Maja konnte es auf einem Zweig sitzen sehen, sie sah, wie die Kehle sich beim Singen bewegte, und der Vogel hatte sein Köpfchen emporgerichtet gegen das Licht.

»Wenn ich doch singen könnte,« sagte die kleine Maja, »so wie dort das Rotkehlchen, ich setzte mich auf eine Blume und täte es den ganzen Tag.«

»Dabei würde etwas Nettes herauskommen,« meinte Hannibal, »Sie mit Ihrem Gesumm.«

»Der Vogel sieht so glücklich aus«, sagte die Biene.

»Sie sind eine fantastische Person«, meinte der Weberknecht. »Wenn alle Tiere sich etwas anderes wünschten, als sie können, so würde bald die Welt auf dem Kopf stehen. Denken Sie sich, ein Rotkehlchen glaubte, es müsste partout einen Stachel haben, oder eine Ziege wollte herumfliegen und Honig sammeln. Dann käme am Ende noch der Frosch und wünschte sich solche Beine, wie ich sie habe.«

Maja lachte.

»Nein, das meine ich nicht,« sagte sie, »aber ich denke es mir wunderschön, alle Wesen so glücklich machen zu können, wie dieser Vogel es durch seinen Gesang kann. Aber was ist denn das,« rief sie plötzlich in großer Verwunderung, »Herr, Sie haben ja ein Bein zu viel. Sie haben sieben Beine.«

Hannibal runzelte die Stirn und schaute unwillig vor sich hin.

»Jetzt haben Sie es also doch gemerkt«, sagte er verstimmt. »Allerdings habe ich kein Bein zu viel, sondern eins zu wenig.«

»Ja, haben Sie denn sonst acht Beine?« fragte Maja erstaunt.

»Wenn Sie erlauben,« meinte Hannibal, »wir Spinnen haben acht Beine. Wir brauchen sie, und auch sonst – es ist vornehmer. Mir ist eins abhanden gekommen, schade um das Bein, aber schließlich hilft man sich, so gut man kann.«

»Es muss sehr unangenehm sein, ein Bein zu verlieren«, sagte Maja teilnehmend.

Hannibal stützte das Kinn in die Hand und stellte seine Beine so, dass es schwer war, sie zu überzählen.

»Ich werde Ihnen mitteilen,« sagte er, »wie es gekommen ist. Natürlich ist der Mensch dabei im Spiel, wie gewöhnlich, wenn etwas passiert. Unsereiner sieht sich vor, aber der Mensch ist unvorsichtig und greift mitunter zu, als ob man ein Stück Holz wäre. Soll ich Ihnen erzählen, wie sich dieser beklagenswerte Vorfall zugetragen hat?«

»Ach bitte,« sagte Maja und setzte sich zurecht, »das wäre mir sehr interessant. Sie haben sicher ungemein viel erfahren.«

»Das ist richtig,« sagte Hannibal, »jetzt passen Sie auf. Unser Geschlecht gehört zu den Nachtvölkern, darüber werden Sie unterrichtet sein. Ich lebte damals in einem grünen Gartenhaus, das außen mit Efeu bewachsen war und in dem sich manche zerbrochene Fensterscheibe befand, so dass ich bequem ein- und ausgehen konnte. Wenn es dunkel wurde, kam der Mensch durch den Garten, trug seine künstliche Sonne, die er Lampe nennt, in der einen Hand, in der anderen eine Flasche und unter dem Arm Papier, außerdem hatte er noch eine kleine Flasche in der Tasche. Er stellte alles auf den Tisch und fing an nachzudenken, weil er seine Ansichten auf das Papier schreiben wollte. Sie werden sicher schon Papier gefunden haben, im Wald oder im Garten. Das Schwarze darauf hat der Mensch sich ausgedacht.«

»Fabelhaft«, sagte Maja ganz glücklich, dass sie so viel erfahren sollte.

»Zu diesem Zweck«, erklärte Hannibal weiter, »braucht der Mensch seine beiden Flaschen. In die kleine steckt er einen Holzstab, aus der großen trinkt er. Je mehr er trinkt, um so besser geht es voran. Er schreibt natürlich über uns, alles was er weiß, und ist sehr eifrig, aber viel kommt nicht dabei heraus, denn der Mensch hat bisher über uns Insekten nur recht wenig in Erfahrung gebracht. Über unser Seelenleben weiß er fast nichts, und auf unser Herz und seine Ängste nimmt er nicht die kleinste Rücksicht. Sie werden hören.«

»Denken Sie nicht gut vom Menschen?« fragte Maja.

»Doch, doch,« antwortete der Weberknecht und schaute schräg vor sich nieder, »aber mit sieben Beinen wird man bitter.«

»Ach so«, sagte Maja.

»Eines Abends«, fuhr Hannibal fort, »war ich wie gewöhnlich in den Fensterwinkeln auf der Jagd, und der Mensch saß vor seinen beiden Flaschen und versuchte etwas zustande zu bringen. Ich ärgerte mich schon darüber, dass eine große Anzahl der kleinen Fliegen und Mücken, von deren Fang ich zu meinem Lebensunterhalt abhängig bin, sich auf die künstliche Sonne des Menschen gesetzt hatte und hineinglotzte, ungebildet, wie solche Tiere nun einmal sind.«

»Na,« meinte Maja, »ansehen würde ich mir so was schließlich auch mal.«

»Ansehen, meinetwegen. Aber ansehen ist etwas ganz anderes wie glotzen. Schauen Sie sich doch einmal die Torheiten an, die dies Gesindel bei einer Lampe treibt. Dass sie zwanzigmal mit dem Kopf dagegenrennen, ist noch eine Kleinigkeit, manche tun es so lange, bis sie sich ihre Flügel verbrannt haben. Dabei glotzen sie ununterbrochen das Licht an.«

»Die armen Tiere,« meinte Maja, »offenbar können sie sich nicht mehr zurechtfinden.«

»Dann bleiben sie besser in den Fensternischen oder unter den Blättern sitzen,« sagte Hannibal, »dort sind sie vor der Lampe sicher und dort kann ich sie fangen. In jener verhängnisvollen Nacht nun sah ich von der Fensternische aus vereinzelte Mücken neben der Lampe in den letzten Zügen liegen. Ich beobachtete, dass dem Menschen scheinbar nichts daran gelegen war, und beschloss, sie mir zu holen. Ist etwas in der Welt begreiflicher?«

»Nein«, sagte Maja.

»Und doch, es wurde mein Unglück. Leise und vorsichtig kroch ich am Tischbein empor, bis ich über den Rand schauen konnte. Der Mensch erschien mir fürchterlich groß, und ich betrachtete, was er tat. Langsam setzte ich ein Bein vor das andere und näherte mich der Lampe. Solange ich Deckung hinter der Flasche hatte, ging alles gut, aber kaum trat ich hinter dem Glas hervor, als der Mensch auch schon aufblickte und nach mir griff. Er nahm eins meiner Beine zwischen seine Finger, hob mich daran empor bis dicht vor seine großen Augen und sagte: ›Ei, sieh da!‹ Und dabei grinste dieser Grobian über das ganze Gesicht, als ob es sich um ein Vergnügen handelte.«

Hannibal seufzte und die kleine Maja war ganz still. Endlich fragte sie mit heißem Kopf.

»Hat der Mensch so große Augen?«

»Denken Sie jetzt gefälligst an mich und an meine Lage«, rief Hannibal erregt. »Versuchen Sie, sich meinen Gemütszustand vorzustellen. Wer hängt gerne an einem Bein vor Augen, die etwa zwanzigmal so groß sind, wie sein eigener Körper? Jeder der Zähne, welcher aus dem Mund des Menschen weiß hervorblitzte, war doppelt so groß wie ich. Nun, was denken Sie?«

»Schrecklich,« sagte Maja, »also entsetzlich!«

»Da riss gottlob mein Bein. Es ist nicht abzusehen, was alles geschehen wäre, wenn es gehalten hätte. Ich fiel und lief, so rasch mich meine übrigen Beine trugen, und versteckte mich hinter der Flasche, in deren Schutz ich die furchtbarsten Drohungen gegen den Menschen ausstieß. Deshalb verfolgte er mich weiter nicht. Ich sah, wie er mein Bein auf das weiße Papier legte und zusah, wie es fortlaufen wollte, was es aber ohne mich nicht kann.«

»Bewegte es sich noch?« fragte Maja erschrocken.

»Ja,« erklärte ihr Hannibal, »das tun unsere Beine immer, nachdem sie ausgerissen worden sind. Mein Bein lief, aber weil ich nicht dabei war, wusste es nicht wohin. So zappelte es nur planlos auf demselben Fleck herum, und der Mensch sah zu, fasste seine Nase an und lächelte dabei, herzlos wie er ist, über das Pflichtbewusstsein meines Beins.«

»Das ist unmöglich,« sagte die kleine Biene ganz eingeschüchtert, »ein abbes Bein kann nicht krabbeln.«

»Was ist ein abbes Bein?« fragte Hannibal.

Maja sah ihn an. »Das ist ein Bein, das ab ist,« erklärte sie, »bei uns zu Haus sagte man so.«

»Ihre Ausdrücke aus der Kinderstube gewöhnen Sie sich im großen Leben und vor gebildeten Leuten besser ab«, forderte Hannibal mit Strenge. »Man sagt ein ausgerissenes Bein. Jedenfalls ist es wahr, dass unsere Beine noch lange zappeln, nachdem sie ausgerissen sind.«

»Nein,« sagte Maja, »das glaub’ ich nicht ohne Beweis.«

»Meinen Sie, ich risse mir Ihretwegen ein Bein aus?« fragte Hannibal böse. »Ich merke schon, dass man mit Ihnen nicht verkehren kann. So etwas hat mir noch niemand zugemutet.«

Maja wurde ganz befangen, sie begriff nicht, weshalb der Weberknecht so verdrießlich wurde und wo ihre Schuld lag. Es ist gar nicht so leicht, mit fremden Leuten zu verkehren, dachte sie, sie denken anders und begreifen oft nicht, dass man es nicht böse meint. Sie wurde traurig und sah bekümmert auf die große Spinne mit ihren langen Beinen und ihrem grämlichen Gesichtsausdruck.

»Eigentlich sollte man den Versuch machen, Sie zu fressen«, sagte da plötzlich der Weberknecht, der offenbar die Gutmütigkeit Majas für Schwäche gehalten hatte. Aber da geschah es der kleinen Biene ganz seltsam, ihre Trauer war plötzlich verflogen, und an Stelle von Schreck oder Furcht stieg ein ruhiger Mut in ihrem Herzen empor. Sie richtete sich ein wenig auf, und während sie ihr hohes helles Summen ausstieß, fast ohne zu wissen, dass sie es tat, sagte sie mit glänzenden Augen und hob ihre schönen durchsichtigen Flügel ein wenig:

»Ich bin eine Biene, mein Herr.«

»Pardon«, sagte Hannibal, drehte sich ohne Gruß um und lief den Stamm so rasch hinunter, wie man nur irgend mit sieben Beinen laufen kann.

Maja musste lachen, ob sie wollte oder nicht. Unten begann Hannibal laut zu schelten.

»Sie haben einen schlechten Charakter,« rief er aufgeregt, »Sie gehen mit Ihrem Stachel gegen Leute vor, die durch harte Schicksalsschläge daran behindert sind, sich in gewohnter Weise von der Stelle zu bewegen. Aber Ihre Stunde wird schlagen, und sobald Sie in Bedrängnisse geraten, werden Sie an mich denken und alles bereuen.«

Er verschwand unter den Huflattichblättern am Boden. Die kleine Biene hatte nicht mehr alles verstanden, ihr war wohl zumut, zumal der Wind fast ganz nachgelassen hatte und der Tag schön zu werden versprach. Hoch am Himmel zogen weiße Wolken im tiefen Blau, sie sahen still und glücklich aus, wie gute Gedanken Gottes. Und heiß und unwiderstehlich überfiel die kleine Biene die Sehnsucht nach dem satten Schattengrund der Waldwiesen und nach den besonnten Hängen jenseits des großen Sees, dort musste längst ein frohes Leben begonnen haben. Sie sah die schlanken Gräser schaukeln, und am Waldrand wuchsen in den schmalen Wassergräben hohe gelbe Schwertlilien. Von ihren Kelchen sah man hinüber in die geheimnisvolle Nacht des Tannenwaldes, aus dem es kühl und traurig wehte. Sie wusste, in seiner finstern Stille, die den Sonnenschein in ein rötliches Schlummerlicht verwandelte, lag das Heimatland der Märchen.

Da flog sie schon durch die Luft. Es war ihr gar nicht recht zum Bewusstsein gekommen, dass sie aufgeflogen war. Die Waldwiesen und ihre Blumenhänge hatten sie gerufen. O du lieber Gott, dachte sie, wie herrlich ist es, zu leben.