Kapitel 8 Die Wanze und der Schmetterling
Die Gefangenschaft bei der Spinne hatte der kleinen Maja doch zu denken gegeben. Sie beschloss vorsichtiger zu werden, und sich künftig nicht mehr allzu rasch einzulassen. Wenn Kassandra sie auch über die größten Gefahren, die den Bienen drohen, unterrichtet hatte, so war doch die Welt zu groß, und es gab zu viele Möglichkeiten, als dass man nicht allen Grund gehabt hätte, nachdenklich zu werden. Besonders des Abends, wenn die Dämmerung über das Land niedersank, kamen der kleinen Biene mancherlei Erwägungen in ihrer Einsamkeit; schien aber am andern Morgen die Sonne, so vergaß sie für gewöhnlich die Hälfte ihrer Besorgnisse und ließ sich durch ihr Verlangen nach Erlebnissen aufs neue in den bunten Lebensstrudel hinaustreiben.
Eines Tages begegnete ihr in einem Himbeergebüsch ein merkwürdiges Tier. Es war eckig und seltsam platt, hatte aber eine hübsche Zeichnung auf seinem Rückenschild, von dem man nicht recht sagen konnte, ob es Flügel waren oder nicht. Das seltsame kleine Ungeheuer saß ganz still mit halbgeschlossenen Augen auf einem Blatt im Schatten im Duft der Himbeeren und schien nachzudenken.
Maja wollte wissen, was das für ein Tier war. Sie flog ganz in die Nähe, setzte sich auf ein benachbartes Blatt und grüßte. Die Fremde antwortete nicht.
»Sie!« sagte Maja und stieß das Blatt der Fremden an, so dass es etwas wackelte. Da öffnete das platte Geschöpf langsam ein Auge, schaute Maja damit an und sagte:
»Eine Biene. Nun ja, es gibt viele Bienen.« Und dann machte es sein Auge wieder zu.
Wie eigenartig, dachte die kleine Maja, aber sie beschloss doch, hinter das Geheimnis der Fremden zu kommen. Nun war sie ihr erst recht interessant geworden, wie Leute es oft werden, die nichts von uns wissen wollen. Maja versuchte es mit etwas Honig. »Ich habe reichlich,« sagte sie, »wenn ich Ihnen vielleicht etwas anbieten darf?«
Die Fremde machte ihr Auge wieder auf und schaute Maja eine Weile sinnend an. Was wird sie diesmal sagen, dachte die Biene. Aber es kam keine Antwort, nur das Auge schloss sich wieder, und die Fremde blieb still sitzen, ganz fest an das Blatt geschmiegt, so dass man nichts von ihren Beinen sah und fast glauben konnte, es hätte sie jemand mit dem Daumen so fest an das Blatt gepresst, dass sie darüber platt geworden war.
Maja merkte nun wohl, dass die Fremde nichts von ihr wissen wollte, aber wie es einem so geht, man möchte nicht gern so unhöflich verabschiedet werden, am wenigsten ohne zu seinem Ziel gelangt zu sein. Das wäre ja gradezu eine Blamage gewesen, und die erlebt niemand gern.
»Wer immer Sie sein mögen,« rief Maja, »merken Sie sich, dass man in der Insektenwelt einen Gruß zu erwidern pflegt, ganz besonders aber dann, wenn er von einer Biene geboten wird.«
Es blieb ganz still, und nichts rührte sich. Die Fremde machte ihr Auge nicht mehr auf.
Dies Tier ist krank, dachte sich Maja. Wie unangenehm, an einem so schönen Tage krank zu sein, darum sitzt es auch im Schatten. Sie flog auf das Blatt der Fremden und setzte sich neben sie.
»Meine Liebe,« fragte sie freundlich, »was fehlt Ihnen?«
Da begann das fremde Tier sich fortzubewegen, auf ganz absonderliche Art, als ob es von einer unsichtbaren Hand geschoben würde. Es hat keine Beine, dachte Maja, deshalb ist es so verstimmt. Am Stiel des Blattes machte es halt, und nun sah Maja zu ihrer Verwunderung, dass es einen kleinen braunen Tropfen zurückgelassen hatte. Wie apart, dachte sie, aber da verbreitete sich plötzlich ein furchtbarer Geruch in der Luft, der von diesem braunen Tropfen ausging. Die Biene wurde beinahe betäubt, so eindringlich und widerwärtig war dieser Geruch, und so rasch sie konnte, flog sie empor und setzte sich auf eine Himbeere, hielt sich die Nase zu und schüttelte sich vor Aufregung und Entsetzen.
»Ja, warum lassen Sie sich mit einer Wanze ein,« sagte jemand über ihr und lachte.
»Lachen Sie nicht!« rief Maja.
Sie sah sich um. Über ihr auf einem feinen schaukelnden Trieb des Himbeerbusches saß ein weißer Schmetterling. Er klappte seine großen Flügel langsam auf und wieder zu, lautlos und von der Sonne beglückt. Seine Flügel hatten schwarze Ecken, auch waren mitten darauf runde schwarze Punkte, auf jedem Flügel einer, so dass es zusammen vier waren. Maja hatte schon viele Schmetterlinge gesehen, aber sie hatte noch keinen kennengelernt. Vor Entzücken über seine Schönheit vergaß sie ihren Verdruss.
»Ach,« sagte sie, »Sie haben vielleicht ganz recht, wenn Sie lachen. War das eine Wanze?«
Der Schmetterling nickte. »Aber sicher war es eine,« sagte er, immer noch lächelnd, »mit denen lässt man sich nicht ein. Sie sind wohl noch sehr jung?«
»Nun,« meinte Maja, »das will ich nicht grade behaupten. Ich habe große Erfahrungen gemacht. Aber so ein Tier ist mir noch nicht vorgekommen. Wer tut denn so was?«
Der Schmetterling musste wieder lachen.
»Die Wanzen«, erzählte er, »sind gern allein, und weil sie im allgemeinen nicht sehr beliebt sind, versuchen sie sich auf diese Art bemerkbar zu machen. Man würde sie sonst wahrscheinlich bald vergessen, aber auf diese Art denkt man an sie. Das wollen sie jedenfalls.«
»Wie schön Ihre Flügel sind,« sagte Maja, »so leicht und weiß. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich heiße Maja, vom Volk der Bienen.«
Der Schmetterling legte seine Flügel zusammen, so dass es aussah, als habe er nur einen, sie standen grade in die Luft empor. Er verbeugte sich ein wenig und sagte nur ganz kurz:
»Fritz.«
So hieß er. Maja konnte sich nicht satt sehen an seinen Flügeln. »Fliegen Sie mal«, sagte sie.
»Soll ich fortfliegen?«
»O nein,« antwortete Maja, »ich möchte nur sehen, wie Ihre großen weißen Flügel sich in der blauen Luft bewegen, aber ich kann es ja auch später noch sehen. Wo wohnen Sie?«
»Ich habe keine bestimmte Wohnung,« sagte Fritz, »man hat zu viel Umstände damit. Seit ich ein Schmetterling bin, ist das Leben erst wirklich schön. Früher, als ich eine Raupe war, kam man den ganzen Tag nicht von den Kohlblättern herunter, fraß und zankte sich.«
»Wie meinen Sie das?« fragte Maja erstaunt.
»Früher war ich eine Raupe«, sagte Fritz.
»Ausgeschlossen«, rief Maja.
»Na, hören Sie mal,« meinte Fritz und richtete seine beiden Fühler grade auf Maja, »das weiß doch jeder, das weiß sogar der Mensch.«
Die kleine Maja wurde ganz befangen. Ob so etwas in der Welt möglich war?
»Da müssen Sie sich erst deutlicher erklären,« sagte sie zweifelnd, »so ohne weiteres werde ich das nicht glauben. Das können Sie nicht verlangen.«
Der Schmetterling setzte sich neben die Biene auf den kleinen schwankenden Zweig des Busches, und sie schaukelten nebeneinander im Morgenwind. Er erzählte ihr, wie er eines Tages als Raupe begonnen habe sich einzuspinnen, bis nichts mehr kenntlich war als eine unscheinbare braune Hülle, die Puppe genannt würde. »Und nach wenig Wochen«, fuhr er fort, »erwachte ich aus meinem dunklen Schlaf und zerbrach meine Hülle. Ich kann Ihnen niemals schildern, Maja, wie einem nach so einer Zeit zumute ist, wenn man plötzlich die Sonne wieder sieht. Mir war zumute, als verginge ich in einem warmen goldenen Meer, und ich habe mein Leben so geliebt, dass ich Herzklopfen bekam.«
»Das kann ich verstehn,« sagte Maja, »es ist mir ebenso gegangen, als ich zum ersten Mal aus unserer düsteren Stadt in den hellen Blütenduft hinausflog.« Und die kleine Biene wurde einen Augenblick ganz still, weil sie an ihren ersten Ausflug denken musste. Aber dann wollte sie wissen, wie die großen Flügel des Schmetterlings in der kleinen Hülle hätten wachsen können.
Fritz erklärte es ihr.
»Sie sind leicht und fein zusammengelegt, wie die Blütenblätter einer Blume in einer Knospe. Wenn es hell und warm wird, muss die Blume sich öffnen, sie kann nicht anders, und ihre Blätter entfalten sich. So ist es auch mir mit meinen Flügeln gegangen. Niemand kann widerstehn, wenn die Sonne scheint.«
»Ja,« sagte Maja, »das ist wahr.« Nachdenklich betrachtete sie den weißen Schmetterling, wie er im goldenen Morgenlicht saß, gegen den blauen Himmel.
»Man sagt uns oft nach, wir seien leichtsinnig,« sagte Fritz, »aber im Grunde sind wir nur glücklich. Sie glauben nicht, wie ernst ich oft über das Leben nachdenke.«
»Was haben Sie alles ausgedacht?« fragte Maja.
»Über die Zukunft denke ich nach,« sagte der Schmetterling, »sie ist sehr interessant. Aber nun will ich fliegen, die Wiesen am Berghang stehn voll Glockenblumen und Schafgarbe, alles blüht dort; ich möchte dabei sein, wissen Sie.«
Maja verstand das gut, und sie verabschiedeten sich und flogen nach verschiedenen Seiten davon, der weiße Schmetterling lautlos und schaukelnd, als trüge ihn der sanfte Wind, und die kleine Maja mit ihrem sorgenvollen Summen, das wir an schönen Tagen über den Blumen hören und nie vergessen können, wenn wir an den Sommer denken.