Die Biene Maja und ihre Abenteuer

Waldemar Bonsel (Autor)

Inhaltsangabe

Kapitel 15 Die Heimkehr

Die kleine Maja nahm ihre ganzen Kräfte zusammen, alles an Willen und Tatkraft, was ihr geblieben war. Wie eine Kugel aus dem Lauf einer Jagdbüchse flog sie blitzschnell schnurgrade durch die bläuliche Morgenluft dahin, grade auf den Wald zu. Die Bienen können rascher fliegen als die meisten anderen Insekten. Dort war sie zunächst sicher, dort konnte sie sich verstecken, falls die Hornisse bereuen sollte, sie freigegeben zu haben, und ihr folgte.

Aus den Bäumen fielen schwere Tropfen in die welken Blätter des Waldbodens. Es war so kalt, dass der Biene die Flügel zu erstarren drohten. Überall lagen feine Schleier in der Ebene, und vom Morgenrot war nichts zu sehen. Dabei war es so still in der Runde, als habe die Sonne die Erde vergessen und als hätten alle Wesen sich zu einem Todesschlaf niedergelegt. Da flog Maja so hoch empor in die Luft als sie konnte. Es galt für sie nur eines: sie musste so rasch als ihre Kräfte und Sinne zuließen, den Stock der Ihren finden, ihr Volk, ihre bedrohte Heimat. Sie musste die Ihren warnen, dass sie sich gegen den Überfall rüsten konnten, den die furchtbaren Räuber an diesem Morgen planten. O, das Volk der Bienen war stark und wohl befähigt, den Kampf mit den überlegenen Gegnern aufzunehmen, wenn sie sich wappnen konnten und zur Verteidigung vorbereiten. Niemals aber, wenn sie überrumpelt und im Erwachen überfallen wurden. Wenn die Königin und die Soldaten noch schliefen, dann würde es ein furchtbares Morden geben und viele Gefangene, und der Erfolg der Hornissen war gewiss. Und nun, da die kleine Biene an die Kraft und die Stärke der Ihren dachte, an ihre Todesbereitschaft und ihre Treue gegen die Königin, überkam sie ein hoher Zorn gegen die Feinde und zugleich ein beseligter Opferwille und ein beglückender Mut ihrer begeisterten Liebe.

Es war nicht leicht für sie, sich in der Umgegend zurechtzufinden. Sie hatte sich schon seit langem nicht mehr auf jene Art das Land gemerkt, wie die anderen Bienen es gewohnt waren, die immer von weiten Ausflügen mit ihrer Honigtracht zum Stock zurückfinden mussten.

Ihr war, als sei sie noch niemals so hoch in der Luft gewesen, wie nun, die Kühle tat ihr weh, und sie konnte die einzelnen Gegenstände drunten kaum noch deutlich unterscheiden. Worauf soll ich mich verlassen, dachte sie, ich habe keinen Anhalt und werde den Meinen keine Hilfe bringen können. »Ach, hier war nun die beste Gelegenheit, alles gutzumachen,« seufzte sie in ihrer Angst, »was soll ich tun?« Aber plötzlich trieb es sie mit heimlichen Mächten unwiderstehlich nach einer bestimmten Richtung hin. Was ist es nur, das mich drängt und zieht, dachte sie, es muss mein Heimweh sein, das mich führt. Und sie überließ sich diesem Gefühl und flog so rasch sie konnte gradeaus. Und plötzlich brach sie in helles Jubeln aus, dort schimmerten fern wie graue Kuppeln aus der Dämmerung die Baumkronen der großen Linden des Schlossparks. Nun wusste sie sich zurechtzufinden und augenblicklich ließ sie sich bis dicht über die Erde nieder. Sie sah auf den Wiesen zur Seite die hellen Nebelstriche wieder dichter und dachte an die Blumenelfen, die dort getrost und selig ihren frühen Tod starben. Das füllte ihr das Herz aufs neue mit Zuversicht, und ihre Angst verlor sich. Mochten die Ihren sie wegen ihrer Flucht aus dem Reiche verachten, mochte die Königin sie strafen, wenn nur ihr Volk von dem furchtbaren Unheil verschont blieb, das ihm drohte.

Dort schimmerte schon dicht an der langen Steinmauer die Blautanne, die die Bienenstadt der Ihren gegen den Westwind schützte, und nun sah sie die bekannten Fluglöcher, die roten, blauen und grünen Tore ihrer Heimat leuchten. Ihr Herz schlug so stürmisch, dass sie glaubte, ihr Atem müsste ihr vergehn, aber sie hielt aus und steuerte grade auf den Eingang des roten Tors zu; dort führte es zu ihrem Volk und zu ihrer Königin.

Als sie sich auf dem Flugbrett vor dem Tore niederließ, vertraten ihr die beiden Wächter den Eingang und ergriffen sie sogleich. Maja konnte in ihrer Atemlosigkeit anfangs kein Wort hervorbringen, und die Wachen machten Miene, sie zu töten. Denn es ist den Bienen bei Todesstrafe verboten, in eine fremde Stadt zu dringen ohne den Willen der Königin.

»Zurück!« rief der Wächter und stieß sie rau vor sich her, »was kommt Ihnen in den Sinn?! Wenn Sie nicht augenblicklich umkehren, ist es um Sie geschehen.« Und dem anderen Wächter zugewandt, sagte er: »Ist dir schon einmal so etwas vorgekommen, und noch dazu vor Tagesanbruch?«

Da rief Maja das Losungswort ihres Volks, woran alle Bienen die Ihren erkannten, und die Wächter ließen sie augenblicklich los.

»Was ist das?!« riefen sie, »du bist eine der Unsrigen, und wir kennen dich nicht?«

»Lasst mich vor die Königin,« stöhnte die kleine Maja, »gleich, rasch, es droht großes Unheil.«

Die Wächter zögerten noch, sie verstanden nicht, was vor sich ging.

»Die Königin darf nicht vor Sonnenaufgang geweckt werden«, sagte der eine von ihnen.

Da schrie Maja so laut und leidenschaftlich, wie die beiden wohl niemals eine Biene haben schreien hören:

»So erwacht die Königin vielleicht nie mehr zum Leben! Der Tod folgt mir auf dem Fuß.« Und sie fügte so wild und zornig hinzu: »Ihr sollt mich vor die Königin führen!« dass die Wächter ganz erschrocken und tief ergriffen gehorchten.

Nun eilten sie miteinander durch die warmen, vertrauten Straßen und Gänge, die Maja alle wiedererkannte, und obgleich ihre Erregung und Hast sie fast überwältigten, zitterte doch ihr Herz vor Wehmut unter den Wohltaten ihrer Heimat.

»Ich bin zu Hause«, stammelte sie mit blassen Lippen.

Im Empfangssaal der Königin brach sie beinahe zusammen. Einer der Wächter stützte sie, während der andere mit der ungewöhnlichen Botschaft in die Gemächer der Königin eilte. Sie hatten nun beide erkannt, dass etwas ganz Außerordentliches im Anzuge war, und der Bote lief so rasch, als seine Füße ihn trugen.

Die ersten Wachsbereiterinnen waren schon auf, neugierig schaute hier und da ein Köpfchen durch die Eingänge, die Nachricht dieses Vorfalls verbreitete sich schnell.

Da kamen zwei Offiziere aus den Gemächern der Königin. Maja erkannte sie sogleich, sie nahmen ernst und schweigend am Eingang ihre Stellungen ein, ohne Maja anzureden; nun musste gleich die Königin erscheinen.

Sie kam ohne ihren Hofstaat, nur in Begleitung zweier Dienerinnen und ihres Leibadjutanten. Als sie Maja sah, trat sie schnell auf sie zu, und da sie den argen Zustand und die große Erregung der kleinen Biene sah, verlor sich der Zug von Ernst und Strenge ein wenig, der in ihrem Gesicht gelegen hatte.

»Du kommst mit einer wichtigen Botschaft?« fragte sie ruhig. »Wer bist du?«

Maja konnte nicht gleich sprechen. Endlich brachte sie mühsam nur die Worte hervor:

»Die Hornissen!«

Die Königin erbleichte, aber sie blieb gefasst, und das beruhigte auch Maja ein wenig.

»Großmächtige Königin,« rief sie, »vergib mir, dass ich die Pflichten nicht beachte, die deine Hoheit und Würde erheischen, ich will später alles sagen, was ich getan habe und was ich von Herzen bereue. Ich bin in dieser Nacht wie durch ein Wunder der Gefangenschaft der Hornissen entronnen, und das letzte, was ich von ihnen gehört habe, ist, dass in der Morgendämmerung dieses Tages unser Reich überfallen und ausgeraubt werden soll!«

Das Entsetzen, das diese Worte der kleinen Maja bei allen Anwesenden hervorriefen, lässt sich kaum schildern. Die beiden Dienerinnen, die die Königin begleiteten, brachen in lautes Jammern aus, und die Offiziere am Eingang machten Miene, bleich vor Schreck, davonzufliegen und Alarm zu schlagen. Der Adjutant sagte: »Ja Herrgott ...«, und drehte sich einmal um sich selbst, weil er sich nach allen Seiten zugleich umsehen wollte.

Es war wirklich ein ganz außerordentlicher Anblick, zu sehen, mit welcher Ruhe und Geisteskraft die Königin die furchtbare Nachricht aufnahm. Sie reckte sich ein wenig empor, und in ihre Haltung kam etwas, was alle einschüchterte und ihnen zugleich ein grenzenloses Vertrauen einflößte. Die kleine Maja zitterte vor Erhobenheit, so etwas Bedeutungsvolles an Überlegenheit glaubte sie noch niemals gesehen zu haben. Und die Königin winkte die Offiziere an ihre Seite und sprach laut und gefasst ein paar rasche Sätze zu ihnen. Maja hörte zum Schluss noch die Worte: »Ich gebe euch eine Minute zur Ausführung meines Befehls, wenn es länger dauert, kostet es euren Kopf.« Aber die beiden Offiziere sahen gar nicht so aus, als ob man sie anfeuern müsste; sie stürmten davon, dass es eine Freude zu sehen war.

»O, meine Königin«, sagte die kleine Maja.

Da neigte sich die Königin noch für einen kleinen Augenblick zu Maja nieder, noch einmal für kurze Zeit sah die kleine Biene das Angesicht ihrer Fürstin milde und voll Liebe erstrahlen.

»Hab’ Dank,« sagte sie zu Maja, »du hast uns alle gerettet, was immer vorher geschehen sein mag, du hast es tausendfältig gut gemacht. Aber nun geh und ruh dich aus, mein Herzchen, du siehst elend aus, und deine Hände zittern.«

»Ich möchte für dich sterben«, stammelte Maja bebend.

Da antwortete die Königin:

»Sei nun ohne Sorge um uns. Unter all den Tausenden, die diese Stadt bewohnen, ist nicht eine einzige, die nicht ohne Besinnen ihr Leben für das Wohl der anderen und für mein Wohl hingeben würde. Du kannst ruhig schlafen.«

Sie beugte sich zu der kleinen Maja nieder und küsste sie auf ihre Stirn, dann winkte sie ihren Dienerinnen und befahl ihnen, für das Wohl und die Ruhe Majas Sorge zu tragen.

Die kleine Biene ließ sich willenlos und tief von Herzen beglückt davonführen. Ihr war zumute, als habe ihr das Leben nun nichts Schöneres mehr zu geben. Sie hörte wie im Traum noch in der Ferne hohe helle Signalrufe, sah wie die Würdenträger des Staates sich um die Eingänge der Königsgemächer drängten, und dann vernahm sie ein dumpfes, weithin hallendes Dröhnen, das den ganzen Stock erschütterte.

»Die Soldaten! Unsere Soldaten!« flüsterte neben ihr die Dienerin.

Das letzte, was sie in der kleinen stillen Kammer hörte, in der ihre Begleiterinnen sie zur Ruhe betteten, war dicht unter ihrer Tür der Marschschritt vorbeieilender Truppen. Sie vernahm eine klare Kommandostimme, die froh und zuversichtlich klang, und in ihren ersten Traum hinein tönte das alte Soldatenlied der Bienen, und sie hörte, verklingend wie aus weiter Ferne:

Sonne, goldne Sonne du
leuchte unserm Treiben.
Segne unsere Königin,
lass uns einig bleiben.