Kapitel 1 Mowglis Brüder
Kleiner Frosch
Es war sieben Uhr an einem sehr warmen Abend in den Seeonee-Hügeln. Vater Wolf erwachte gerade aus seiner Tagesruhe, kratzte sich, gähnte und streckte seine Pfoten, eine nach der anderen, um das schläfrige Gefühl in den Spitzen loszuwerden. Mutter Wolf lag mit ihrer großen grauen Nase über ihren vier zerzausten, quiekenden Jungen, und der Mond schien in die Öffnung der Höhle, in der sie lebten.
»Argh!«, sagte Vater Wolf. »Zeit zum Jagen.«
Er wollte gerade den Hügel hinunterspringen, als ein kleiner Schatten mit einem buschigen Schwanz die Schwelle überquerte und winselte: »Viel Glück sei mit dir, O Häuptling der Wölfe. Und viel Glück und starke weiße Zähne für die edlen Kinder, damit sie die Hungrigen in dieser Welt nie vergessen mögen.«
Es war der Schakal Tabaqui – der Tellerlecker. Die Wölfe Indiens verachten Tabaqui, weil er herumläuft und Unfug macht, Geschichten erzählt und Lumpen und Lederfetzen von den Müllhaufen der Dörfer frisst. Aber sie fürchten ihn auch, weil Tabaqui, mehr als jeder andere im Dschungel, dazu neigt, verrückt zu werden. Dann vergisst er, dass er jemals Angst vor jemandem hatte, rennt durch den Wald und beißt alles, was ihm in die Quere kommt. Sogar der Tiger flieht und versteckt sich, wenn der kleine Tabaqui verrückt wird, denn der Wahnsinn ist das Schändlichste, was einem wilden Tier widerfahren kann. Wir nennen es Hydrophobia, aber sie nennen es Dewanee – Wahnsinn – und laufen davon.
»Tritt ein und schau dich um«, sagte Vater Wolf steif, »aber hier gibt es nichts zu fressen.«
»Nicht für einen Wolf«, sagte Tabaqui, »aber für ein so niederes Geschöpf wie mich ist ein trockener Knochen ein Festmahl. Wer sind wir, die Gidur-log [die Schakalmenschen], dass wir wählerisch sein können?« Er kroch in den hinteren Teil der Höhle, wo er den Knochen eines Bocks mit etwas Fleisch daran fand; setzte sich, und knackte munter das Ende des Knochens.
»Vielen Dank für dieses vorzügliche Mahl«, sagte er und leckte sich die Lippen. »Wie wunderschön doch die edlen Kinder sind! Wie groß ihre Augen! Und noch so jung! Gewiss, gewiss, ich hätte daran denken können, dass die Kinder von Königen von Anfang an Männer sind.«
Tabaqui wusste so gut wie jeder andere, dass es nichts Unglücklicheres gibt, als Kindern Komplimente ins Gesicht zu machen. Es gefiel ihm, dass Mutter und Vater Wolf unbehaglich aussahen.
Tabaqui saß still und freute sich über das Unheil, das er angerichtet hatte, und sagte gehässig: »Der große Shere Khan hat sein Jagdrevier gewechselt. Er wird den nächsten Mond lang zwischen diesen Hügeln jagen, so hat er es mir erzählt.«
Shere Khan war der Tiger, der in der Nähe des Waingunga-Flusses lebte, zwanzig Meilen entfernt.
»Dazu hat er kein Recht!« begann Vater Wolf wütend: »Beim Gesetz des Dschungels hat er kein Recht, sein Quartier ohne Vorwarnung zu wechseln. Er wird jedes Stück Wild im Umkreis von zehn Meilen verscheuchen, und ich – ich muss in diesen Tagen für zwei töten.«
»Seine Mutter hat ihn nicht umsonst Lungri [der Lahme] genannt«, sagte Mutter Wolf leise. »Er ist von Geburt an auf einem Bein lahm. Deshalb hat er auch nur Vieh getötet. Jetzt sind die Dorfbewohner des Waingunga wütend auf ihn, und er ist hierher gekommen, um unsere Dorfbewohner wütend zu machen. Sie werden den Dschungel nach ihm durchkämmen, wenn er schon weit weg ist, und wir und unsere Kinder müssen fliehen, wenn das Gras in Brand gesetzt wird. In der Tat sind wir Shere Khan sehr dankbar!«
»Soll ich ihm von eurer Dankbarkeit erzählen?«, fragte Tabaqui.
»Raus!«, schnappte Vater Wolf. »Raus, und jage mit deinem Herrn. Du hast für heute Nacht genug Unheil angerichtet.«
»Ich gehe«, sagte Tabaqui leise. »Hört. Man kann Shere Khan unten im Dickicht hören. Ich hätte mir die Nachricht wohl sparen können.«
Vater Wolf lauschte. Unten im Tal, das zu einem kleinen Fluss hinunter führte, hörte er das trockene, zornige, knurrige, singende Jaulen eines Tigers, der nichts gefangen hatte, und den es nicht störte, wenn der ganze Dschungel es wusste.
»Dieser Narr«, sagte Vater Wolf. »Die nächtliche Arbeit mit diesem Lärm zu beginnen! Glaubt er unsere Böcke sind wie seine fetten Waingunga-Ochsen?«
»Ssh. Es sind weder Ochsen noch Böcke die er heute Nacht jagt«, sagte Mutter Wolf. »Es sind Menschen.«
Das Heulen hatte sich in eine Art brummendes Schnurren verwandelt, das aus allen Himmelsrichtungen zu kommen schien. Es war das Geräusch, das Holzfäller und Reisende, die im Freien schliefen, verwirrte, und sie manchmal direkt in das Maul des Tigers rennen ließ.
»Menschen!«, sagte Vater Wolf und bleckte seine weißen Zähne. »Faugh! Gibt es nicht genug Käfer und Frösche im Teich, dass er Menschen fressen muss, noch dazu in unserem Revier!«
Das Gesetz des Dschungels, das nie etwas ohne Grund anordnet, verbietet jedem Tier, Menschen zu fressen. Es sei denn, es tötet, um seinen Kindern zu zeigen, wie man tötet; und dann muss es außerhalb der Jagdgründe seines Rudels oder Stammes jagen. Der wahre Grund dafür ist, dass das Töten von Menschen, früher oder später, die Ankunft von weißen Männern auf Elefanten mit Gewehren, und Hunderten von Braunen Männern mit Gongs, Raketen und Fackeln bedeutet. Der Grund, den die Tiere untereinander nennen, ist, dass der Mensch das schwächste und wehrloseste aller Lebewesen ist, und dass es unsportlich ist, ihn anzufassen. Sie sagen – und das ist wahr – das Menschenfresser räudig werden und ihre Zähne verlieren.
Das Schnurren wurde lauter und endete mit einem aus tiefer Kehle kommenden »Aaargh!« des Tigers. Dann ertönte ein Heulen – ein untigerisches Heulen – von Shere Khan.
»Er war erfolglos«, sagte Mutter Wolf. »Was ist?«
Vater Wolf rannte ein paar Schritte weiter und hörte Shere Khan wild murren, als er sich durch’s Gebüsch wälzte. »Dieser Narr hatte nicht mehr Verstand, als in das Lagerfeuer eines Holzfällers zu springen, und hat sich dabei die Füße verbrannt«, sagte Vater Wolf. »Tabaqui ist bei ihm.«
»Etwas kommt den Hügel hinauf«, sagte Mutter Wolf und zuckte mit einem Ohr. »Mach dich bereit.«
Das Gebüsch raschelte ein wenig im Dickicht, und Vater Wolf duckte sich, bereit zum Sprung. Wenn du zugesehen hättest, hättest du das Wundersamste auf der Welt gesehen – der Wolf stockte mitten im Sprung. Er machte einen Satz, noch ehe er sah, was genau er da ansprang, und dann versuchte er sich selbst zu stoppen. Das Ergebnis war, dass er kerzengerade vier oder fünf Fuß hoch in die Luft schoss und fast genau dort landete, wo er den Boden verlassen hatte.
»Ein Mensch!«, schnappte er. »Ein Menschenjunges. Schau!«
Direkt vor ihm, sich an einem niedrigen Ast festhaltend, stand ein nacktes, braunes Baby, das gerade eben laufen konnte – ein so weiches, kleines Atom, wie es nachts nie in eine Wolfshöhle kam. Es sah hoch in das Gesicht von Vater Wolf und lachte.
»Ist das ein Menschenjunges?«, sagte Mutter Wolf. »Ich habe noch nie eins gesehen. Bring es her.«
Ein Wolf, der daran gewöhnt war, seine eigenen Jungen zu tragen, kann, wenn nötig, ein Ei in den Mund nehmen, ohne es zu zerbrechen. Und obwohl sich Vater Wolfs Kiefer direkt um den Rücken des Kindes schloss, kratzte nicht ein Zahn an der Haut, als er es zwischen den Jungen ablegte.
»Wie klein. Wie nackt und wie mutig.« sagte Mutter Wolf sanft. Das Baby drängte sich zwischen den Jungen hindurch, um näher an das warme Fell heranzukommen.
»Ahai! Er nimmt seine Mahlzeit mit den anderen ein. Das ist also ein Menschenjunges. Gab es denn jemals eine Wölfin, die sich damit rühmen konnte, ein Menschenjunges unter ihren Kindern zu haben?«
»Ich habe hin und wieder von so etwas gehört, aber nie in unserem Rudel oder zu meiner Zeit«, sagte Vater Wolf. »Er ist gänzlich unbehaart, und ich könnte ihn mit einer Berührung meiner Pfote töten. Aber sieh ihn dir an. Er sieht mich an und hat überhaupt keine Angst.«
Das Mondlicht wurde durch den Höhleneingang verdunkelt, denn Shere Khans großer, kantiger Kopf und seine Schultern drängten herein. Tabaqui, der hinter im stand, quiekte: »Mein Herr, mein Herr, es ist hier hineingegangen!«
»Shere Khan erweist uns die Ehre«, sagte Vater Wolf, aber seine Augen wahren zornig. »Was braucht Shere Khan?«
»Meine Beute. Ein Menschenjunges ist hier lang gegangen«, sagte Shere Khan. »Seine Eltern sind geflohen. Gebt es mir.«
Shere Khan hatte sich auf das Lagerfeuer eines Holzfällers gestürzt, wie Vater Wolf gesagt hatte, und war wütend über den Schmerz seiner verbrannten Füße. Vater Wolf wusste, dass der Eingang der Höhle für einen Tiger zu eng war. Selbst dort, wo er stand, waren Shere Khans Schultern und Vorderpfoten aus Platzmangel so eingeengt, wie die eines Mannes, der in einem Fass zu kämpfen versucht.
»Die Wölfe sind ein freies Volk«, sagte Vater Wolf. »Sie befolgen die Befehle des Anführers des Rudels und nicht die eines gestreiften Viehtöters. Das Menschenjunge gehört uns – es zu töten, wenn wir uns dafür entscheiden.«
»Ihr entscheidet und ihr entscheidet nicht! Was ist das für eine Gerede vom Entscheiden? Bei dem Stier, den ich getötet habe, muss ich in eurem Hundeloch herumschnüffeln um meinen gerechten Lohn zu erhalten? Ich bin es, Shere Khan, der spricht!«
Das Brüllen des Tigers erfüllte die Höhle mit Donner. Mutter Wolf schüttelte sich von den Jungen und sprang vor. Ihre Augen, die wie zwei grüne Monde in der Dunkelheit aussahen, waren auf die glühenden Augen von Shere Khan gerichtet.
»Und ich bin es, Raksha [die Dämonin], die antwortet. Das Menschenjunge gehört mir, Lungri – mir! Es soll nicht getötet werden. Es soll leben, um mit dem Rudel zu laufen und mit dem Rudel zu jagen; und am Ende, sieh dich vor, du Jäger von kleinen nackten Jungen – Froschfresser – Fischmörder – soll er dich jagen! Und jetzt verschwinde! Oder bei dem Sambhur, den ich erlegt habe (ich esse kein verhungertes Vieh), zurück zu deiner Mutter wirst du gehen, verbrannte Bestie des Dschungels, lahmer als du je auf die Welt gekommen bist! Geh!«
Vater Wolf schaute erstaunt zu. Er hatte beinahe vergessen, wie er Mutter Wolf in einem fairen Kampf gegen fünf andere Wölfe für sich gewann, als sie noch mit dem Rudel lief und nicht um des Komplimentes Willen Dämonin genannt wurde.
Shere Khan hätte es vielleicht mit Vater Wolf aufnehmen können, aber gegen Mutter Wolf konnte er nicht ankommen, denn er wusste, dass sie dort, wo er war, alle Vorteile auf ihrer Seite hatte und bis zum Tod kämpfen würde. Also zog er sich knurrend aus der Höhle zurück, und als er in Sicherheit war, rief er: »Jeder Hund bellt in sein eigenes Revier! Wir werden sehen, was das Rudel zu dieser Aufzucht von Menschenjungen sagen wird. Das Junge gehört mir. Und letztendlich wird es meine Zähne zu spüren bekommen, ihr buschschwänzigen Diebe!«
Mutter Wolf warf sich keuchend zwischen die Jungen, und Vater Wolf sagte ernst zu ihr: »Shere Khan spricht viel Wahrheit. Das Junge muss dem Rudel gezeigt werden. Willst du ihn trotzdem behalten, Mutter?«
»Behalten!«, keuchte sie. »Er kam nackt, bei Nacht, allein und sehr hungrig, aber er hatte keine Angst! Sieh, er hat schon eines meiner Kinder zur Seite geschoben. Und dieser lahme Schlachter hätte ihn getötet und wäre zu den Waingunga geflohen, während die Dorfbewohner aus Rache durch unsere Unterschlüpfe gejagt hätten! Ihn behalten? Natürlich werde ich ihn behalten. Bleib ruhig liegen, kleiner Frosch. Oh, du Mowgli – denn Mowgli der Frosch werde ich dich nennen – die Zeit wird kommen, in der du Shere Khan jagen wirst, wie er dich gejagt hat.«
»Aber was wird unser Rudel sagen?«, fragte Vater Wolf.
Die Begutachtung
Das Gesetz des Dschungels legt klar fest, dass jeder Wolf, wenn er heiratet, sich aus dem Rudel, dem er angehört, zurückziehen darf. Aber sobald seine Jungen alt genug sind, um auf eigenen Füßen zu stehen, muss er sie zum Rudelrat bringen, der im Allgemeinen einmal im Monat bei Vollmond stattfindet, damit die anderen Wölfe sie begutachten können. Nach dieser Inspektion steht es den Jungen frei zu laufen, wo sie wollen. Und bis sie ihren ersten Bock erlegt haben, wird keine Entschuldigung akzeptiert, wenn ein erwachsener Wolf des Rudels einen von ihnen tötet. Die Strafe ist der Tod, wo immer der Mörder gefunden werden kann; und wenn du kurz darüber nachdenkst, wirst du verstehen, dass dies so sein muss.
Vater Wolf wartete, bis seine Jungen ein wenig laufen konnten, und brachte sie dann in der Nacht des Rudeltreffens zusammen mit Mowgli und Mutter Wolf zum Ratsfelsen – einer mit Steinen und Felsbrocken bedeckten Hügelkuppe, wo sich hundert Wölfe verstecken konnten.
Akela, der große, graue Einsame Wolf, der das Rudel durch Stärke und Schläue anführte, lag in voller Länge auf seinem Felsen. Unter ihm saßen vierzig oder mehr Wölfe jeglicher Größe und Farbe, von dachsfarbenen Veteranen, die es allein mit einem Bock aufnehmen konnten, bis zu jungen schwarzen Dreijährigen, die glaubten, sie könnten es. Der Einsame Wolf führte sie nun schon seit einem Jahr an. In seiner Jugend war er zweimal in eine Wolfsfalle geraten, und einmal war er geschlagen und dem Tod überlassen worden; er kannte also die Sitten und Gebräuche der Menschen. Am Felsen wurde nur wenig gesprochen. Die Jungen purzelten in der Mitte des Kreises, in dem ihre Mütter und Väter saßen, übereinander. Ab und zu ging ein älterer Wolf leise auf ein Junges zu, betrachtete es sorgfältig und kehrte dann auf geräuschlosen Füßen zu seinem Platz zurück. Manchmal schob eine Mutter ihr Junges weit hinaus ins Mondlicht, um sicher zu sein, dass es nicht übersehen worden war. Akela rief dann von seinem Felsen aus: »Ihr kennt das Gesetz, ihr kennt das Gesetz. Seht gut hin, O Wölfe!« Und die besorgten Mütter folgten dem Ruf: »Seht gut hin, O Wölfe!«
Schließlich – und die Nackenhaare von Mutter Wolf hoben sich, als die Zeit gekommen war – schob Vater Wolf Mowgli den Frosch, wie sie ihn nannten, in die Mitte, wo er lachend saß und mit einigen Kieselsteinen spielte, die im Mondlicht funkelten.
Akela hob kein einziges Mal den Kopf von seinen Pfoten, sondern fuhr mit seinem monotonen Ruf fort: »Seht gut hin!«
Ein dumpfes Gebrüll ertönte hinter den Felsen – die Stimme von Shere Khan, der schrie: »Das Junge gehört mir. Gebt es mir. Was hat das Freie Volk mit dem Jungen eines Menschen zu tun?«
Akela zuckte nicht einmal mit den Ohren. Alles, was er sagte, war: »Seht gut hin, O Wölfe! Was hat das Freie Volk mit den Befehlen eines anderen als des Freien Volkes zu tun? Seht gut hin!«
Ein Chor von tiefem Knurren ertönte, und ein junger Wolf von vier Jahren warf die Frage von Shere Khan an Akela zurück: »Was hat das Freie Volk mit dem Jungen eines Menschen zu tun?«
Das Gesetz des Dschungels besagt, dass bei Streitigkeiten über das Recht eines Jungen, in das Rudel aufgenommen zu werden, mindestens zwei Mitglieder des Rudels, die nicht sein Vater und seine Mutter sind, für ihn sprechen müssen.
»Wer spricht für dieses Junge?«, fragte Akela. »Wer vom Freien Volk spricht für ihn?«
Es gab keine Antwort, und Mutter Wolf machte sich bereit für, was wie sie wusste, ihr letzter Kampf sein würde, falls es zum Kampf kommen sollte.
Da erhob sich das einzige andere Wesen, das zum Rudelrat zugelassen ist – Baloo, der schläfrige Braunbär, der die Wolfsjungen das Gesetz des Dschungels lehrt. Der alte Baloo, der kommen und gehen kann, wohin er will, weil er sich nur von Nüssen, Wurzeln und Honig ernährt – auf seine Hinterbeine und grunzte.
»Das Menschenjunge – das Menschenjunge?«, sagte er. »Ich spreche für das Menschenjunge. Es ist nichts Schlimmes an einem Menschenjungen. Ich habe keine Begabung für Worte, aber ich spreche die Wahrheit. Lasst ihn mit dem Rudel laufen und mit den anderen aufgenommen werden. Ich selbst werde ihn unterrichten.«
»Wir benötigen einen weiteren«, sagte Akela. »Baloo hat gesprochen, und er ist unser Lehrer für die Jünglinge. Wer spricht neben Baloo?«
Ein schwarzer Schatten fiel in den Kreis hinab. Es war Bagheera, der Schwarze Panther. Tintenschwarz von Kopf bis Fuß, aber mit den Markierungen eines Panthers, die in bestimmten Licht wie das Muster von gewässerter Seide aufleuchteten. Jeder kannte Bagheera, und niemand riss sich darum seinen Weg zu kreuzen, denn er war so gerissen wie Tabaqui, so kühn wie ein wilder Büffel und so rücksichtslos wie ein verwundeter Elefant. Aber er hatte eine Stimme, so sanft wie wilder Honig, der von einem Baum tropft, und eine Haut, die weicher war als Daunen.
»O Akela, und ihr, das Freie Volk«, schnurrte er, »ich habe kein Recht auf eure Versammlung, aber das Gesetz des Dschungels besagt, dass im Falle eines Zweifels, der nicht mit der Tötung eines neuen Jungtiers zusammenhängt, das Leben des Jungtiers zu einem Preis gekauft werden kann. Und das Gesetz sagt nicht, wer diesen Preis zahlen darf oder nicht. Habe ich Recht?«
»Gut! Gut!«, sagten die jungen Wölfe, die immer hungrig sind. »Hört auf Bagheera. Das Junge kann für einen Preis gekauft werden. So will es das Gesetz.«
»Wohlwissend, dass ich kein Recht habe, hier zu sprechen, bitte ich euch um Erlaubnis.«
»Dann sprich«, riefen zwanzig Stimmen.
»Ein nacktes Jungtier zu töten ist eine Schande. Außerdem ist es vielleicht eine bessere Partie für euch, wenn es erwachsen ist. Baloo hat in seinem Namen gesprochen. Nun will ich zu Baloos Wort noch einen Stier hinzufügen. Einen fetten, frisch erlegten; keine halbe Meile von hier, wenn ihr das Menschenjunge gemäß des Gesetzes akzeptiert.«
Es gab einen Aufschrei von vielen Stimmen, die sagten: »Was macht das schon? Es wird im Winterregen sterben. Es wird in der Sonne verbrennen. Was kann uns ein nackter Frosch schon anhaben? Lasst es mit dem Rudel laufen. Wo ist der Stier, Bagheera? Es soll akzeptiert werden.«
Und dann kam Akelas tiefer Ruf: »Seht gut hin, O Wölfe!«
Mowgli war immer noch mit den Kieselsteinen beschäftigt und bemerkte nicht, wie die Wölfe kamen und ihn einer nach dem anderen betrachteten. Schließlich gingen sie alle den Hügel hinunter, um den toten Stier zu holen, und nur Akela, Bagheera, Baloo und Mowglis eigene Wölfe waren übrig geblieben. Shere Khan brüllte noch in der Nacht, denn er war sehr wütend darüber, dass Mowgli nicht an ihn ausgeliefert worden war.
»Ja, brüll du nur«, sagte Bagheera durch seine Schnurrhaare, »denn es wird die Zeit kommen, wo dieses nackte Ding dich zu einer anderen Melodie brüllen lassen wird, oder ich weiß nichts von den Menschen.«
»Das war gut gemacht«, sagte Akela. »Menschen und ihre Jungen sind sehr weise. Mit der Zeit kann er eine Hilfe sein.«
»Für wahr. Eine Hilfe in Zeiten der Not. Denn niemand kann hoffen, das Rudel für immer anzuführen«, sagte Bagheera.
Akela sagte nichts. Er dachte an die Zeit, die jedem Anführer eines jeden Rudels bevorsteht. Wenn ihn seine Kraft verlässt und er immer schwächer wird, bis er letztendlich von den Wölfen getötet wird und ein neuer Anführer auftaucht, der seinerseits getötet wird, wenn seine Zeit gekommen ist.
»Nimm ihn mit«, sagte er zu Vater Wolf, »und bilde ihn aus, wie es sich für einen des Freien Volkes gehört.«
Und so wurde Mowgli für den Preis eines Stieres und auf Baloos gutes Wort hin in das Wolfsrudel von Seeonee aufgenommen.
Bagheeras Warnung
Nun musst du dich damit begnügen, zehn oder elf Jahre zu überspringen und lediglich erahnen, was für ein wunderbares Leben Mowgli bei den Wölfen führte. Denn würde man es aufschreiben, würde es viele weitere Bücher füllen. Er wuchs mit den Jünglingen auf, obwohl diese bereits erwachsene Wölfe waren, noch bevor er ein Kind war. Und Vater Wolf lehrte ihn sein Geschäft und die Bedeutung der Dinge im Dschungel; bis jedes Rascheln im Gras; jeder Hauch der warmen Nachtluft; jeder Ton der Eulen über seinem Kopf; jedes Kratzen der Krallen einer Fledermaus, wenn sie sich für eine Weile in einem Baum niederließ; und jedes Plätschern eines jeden kleinen Fisches, der in einen Teich sprang, für ihn genauso viel bedeutete wie die Büroarbeit für einen Geschäftsmann. Wenn er nicht lernte, saß er draußen in der Sonne und schlief, aß und ging wieder schlafen. Wenn er sich schmutzig oder heiß fühlte, schwamm er in den Tümpeln des Waldes, und wenn er Honig wollte (Baloo erzählte ihm, dass Honig und Nüsse genauso lecker seien wie rohes Fleisch), kletterte er dafür hinauf, so wie Bagheera es ihm gezeigt hatte.
Bagheera legte sich auf einen Ast und rief: »Komm mit, Kleiner Bruder.« Zuerst hing Mowgli da wie ein Faultier, aber dann schwang er sich fast so kühn durch die Äste wie der graue Affe.
Er nahm auch seinen Platz am Ratsfelsen ein, wenn sich das Rudel traf. Und dort fand er heraus, dass, wenn er einen Wolf ausgiebig anstarrte, dieser gezwungen war, seinen Blick zu senken – und so starrte er zum Vergnügen. Zu anderen Zeiten zupfte er die langen Dornen aus den Ballen seiner Freunde. Denn Wölfe leiden furchtbar unter den Dornen und Kletten in ihrem Fell.
Nachts ging er den Hang hinunter in das kultivierte Land und beobachtete neugierig die Dorfbewohner in ihren Hütten. Aber er misstraute den Menschen, denn Bagheera zeigte ihm einen viereckigen Kasten mit einem Fallgitter, der so geschickt im Dschungel versteckt war, dass er fast hineinlief, und erklärte ihm, dass es eine Falle sei. Er liebte es mehr als alles andere, mit Bagheera in das dunkle, warme Herz des Waldes zu gehen, den ganzen dösigen Tag zu schlafen und nachts zu sehen, wie Bagheera tötete. Bagheera tötete rechts und links, wenn er Hunger hatte, und Mowgli tat es im gleich – mit einer Ausnahme. Sobald Mowgli alt genug war, um die Dinge zu verstehen, sagte Bagheera ihm, dass er niemals Vieh anfassen dürfe, weil er mit dem Leben eines Stieres in das Rudel aufgenommen worden war.
»Der ganze Dschungel gehört dir«, sagte Bagheera. »Du kannst alles töten, wozu du stark genug bist, aber um des Stieres Willen, der dich gekauft hat, darfst du niemals ein Vieh töten oder essen, weder jung noch alt. So will es das Gesetz des Dschungels.« Mowgli gehorchte treu.
Und er wuchs und wurde stark, wie ein Junge wachsen muss, der nicht weiß, dass er etwas lernt, und der an nichts auf der Welt denken muss, außer an das, was er essen kann.
Mutter Wolf erklärte ihm ein- oder zweimal, dass man Shere Khan nicht trauen dürfe und dass er Shere Khan eines Tages töten müsse. Aber obwohl ein junger Wolf sich stündlich an diesen Ratschlag erinnert hätte, vergaß Mowgli ihn, da er nur ein Junge war – obwohl er sich selbst einen Wolf genannt hätte, wenn er in einer menschlichen Sprache hätte sprechen können.
Shere Khan lief ihm im Dschungel ständig über den Weg. Denn als Akela älter und schwächer wurde, hatte sich der lahme Tiger mit den jüngeren Wölfen des Rudels angefreundet, die ihm wegen der Essensreste folgten, was Akela niemals erlaubt hätte, wenn er es gewagt hätte, seine Autorität an die angemessene Grenze zu treiben. Dann schmeichelte Shere Khan ihnen und wunderte sich, dass so gute junge Jäger sich damit zufrieden gaben, von einem sterbenden Wolf und einem Menschenkind geführt zu werden.
»Man sagt«, sagte Shere Khan, »dass ihr es im Rat nicht wagt, ihm in die Augen zu sehen.«
Und die jungen Wölfe knurrten und sträubten sich.
Bagheera, der überall Augen und Ohren hatte, wusste davon, und ein- oder zweimal erklärte er Mowgli in vielen Worten, dass Shere Khan ihn eines Tages töten würde.
Mowgli lachte und antwortete: »Ich habe das Rudel und ich habe dich. Und Baloo, obwohl er so faul ist, könnte mir zuliebe auch den ein oder anderen Schlag ausführen. Warum sollte ich mich fürchten?«
Es war an einem sehr warmen Tag, als Bagheera ein neuer Gedanke kam, der von etwas stammte, das er gehört hatte. Vielleicht hatte Ikki, das Stachelschwein, es ihm erzählt. Er sagte zu Mowgli, als sie tief im Dschungel waren und der Junge mit seinem Kopf auf Bagheeras schöner schwarzer Haut lag: »Kleiner Bruder, wie oft habe ich dir gesagt, dass Shere Khan dein Feind ist?«
»So oft, wie es Nüsse an dieser Palme gibt«, sagte Mowgli, der natürlich nicht zählen konnte. »Na und? Ich bin müde, Bagheera, und Shere Khan hat einen langen Schwanz und redet viel, wie Mao, der Pfau.«
»Aber jetzt ist nicht die Zeit zum Schlafen. Baloo weiß es, ich weiß es, das Rudel weiß es, und selbst die törichten, törichten Hirsche wissen es. Tabaqui hat es dir ebenfalls gesagt.«
»Hoho!«, sagte Mowgli. »Tabaqui kam vor eine Weile zu mir mit seinem unhöflichen Geschwätz, ich sei ein nacktes Menschenkind und nicht geeignet Erdnüsse auszugraben. Aber ich habe Tabaqui am Schwanz gepackt und ihn zweimal gegen eine Palme geschleudert, um ihm bessere Manieren beizubringen.«
»Das war Dummheit, denn obwohl Tabaqui ein Unheilstifter ist, hätte er dir etwas erzählt, das dich sehr betrifft. Öffne die Augen, Kleiner Bruder. Shere Khan wird es nicht wagen, dich im Dschungel zu töten. Aber bedenke, Akela ist sehr alt, und bald kommt der Tag, an dem er seinen Bock nicht mehr töten kann, und dann wird er kein Anführer mehr sein. Viele der Wölfe, die dich betrachteten als du zum ersten Mal vor den Rat gebracht wurdest, sind ebenfalls alt, und die jungen Wölfe glauben, was Shere Khan sie gelehrt hat. Dass ein Menschenkind keinen Platz im Rudel hat. In Kürze wirst du ein Mann sein.«
»Und warum sollte ein Mann nicht mit seinen Brüdern laufen?«, fragte Mowgli. »Ich wurde im Dschungel geboren. Ich habe das Gesetz des Dschungels befolgt, und es gibt keinen Wolf unter uns, dem ich nicht die Dornen aus den Pfoten gezogen habe. Ganz sicher sind sie meine Brüder!«
Bagheera streckte sich und senkte seine Lider. »Kleiner Bruder«, sagte er, »fühle unter meinem Kiefer.«
Mowgli hob seine starke, braune Hand und direkt unter Bagheeras seidigem Kinn, wo die riesigen, geschwungenen Muskeln von glänzendem Haar verdeckt wurden, fühlte er eine kleine kahle Stelle.
»Es gibt niemanden im Dschungel, der weiß, dass ich, Bagheera, dieses Zeichen trage – das Zeichen des Halsbandes; und doch, Kleiner Bruder, wurde ich unter Menschen geboren, und es war unter Menschen, dass meine Mutter starb – in den Käfigen des Königspalastes von Oodeypore. Aus diesem Grund habe ich bei der Versammlung, als du noch ein kleiner nackter Junge warst, den Preis für dich bezahlt. Ja, auch ich wurde unter den Menschen geboren. Ich hatte noch nie den Dschungel gesehen. Sie fütterten mich hinter Gittern aus einer Eisenpfanne, bis ich eines Nachts spürte, dass ich Bagheera war, der Panther, und kein Spielball der Menschen. Ich zerbrach das alberne Schloss mit einem Schlag meiner Pfote und kam frei. Und weil ich die Wege der Menschen gelernt hatte, wurde ich im Dschungel gefürchteter als Shere Khan. Ist es nicht so?«
»Ja«, sagte Mowgli, »der ganze Dschungel fürchtet Bagheera – alle außer Mowgli.«
»Oh, du bist ein Menschenkind«, sagte der Schwarze Panther sehr zärtlich. »Und so wie ich in meinen Dschungel zurückgekehrt bin, so musst du letztendlich zu den Menschen zurückkehren – zu den Menschen, die deine Brüder sind – wenn du nicht vorher im Rat getötet wirst.«
»Aber warum – warum sollte mich jemand töten wollen?«, sagte Mowgli.
»Sieh mich an«, sagte Bagheera. Und Mowgli schaute ihm fest in die Augen. Nach einer Halben Minute wandte der große Panther seinen Kopf zur Seite. »Darum«, sagte er und schob seine Pfote auf den Blättern hin und her. »Nicht einmal ich kann dir in die Augen sehen, und ich wurde unter Menschen geboren, und ich liebe dich, Kleiner Bruder. Die anderen hassen dich, weil sie dir nicht in die Augen sehen können, weil du weise bist, weil du ihnen die Dornen aus den Füßen gezogen hast, weil du ein Mensch bist.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Mowgli mürrisch, und er runzelte die Stirn unter seinen dicken schwarzen Augenbrauen.
»Wie lautet das Gesetz des Dschungels? Erst zuschlagen, dann sprechen. Durch deine Sorglosigkeit wissen sie, dass du ein Mensch bist. Aber sei weise. Ich fühle in meinem Herzen, dass, wenn Akela seine nächste Beute verfehlt – und bei jeder Jagd kostet es ihn mehr, den Bock zu erlegen – sich das Rudel gegen dich und gegen ihn wenden wird. Sie werden eine Dschungelversammlung am Felsen abhalten, und dann … ich hab’s!« sagte Bagheera und sprang auf. »Geh schnell zu den Hütten der Menschen im Tal und nimm etwas von der Roten Blume, die dort wächst, damit du, wenn die Zeit gekommen ist, einen noch stärkeren Freund hast als mich oder Baloo oder die aus dem Rudel, die dich lieben. Hol die Rote Blume.«
Mit der Roten Blume meinte Bagheera das Feuer, aber kein Wesen im Dschungel nennt das Feuer bei seinem richtigen Namen. Jedes Tier lebt in tödlicher Furcht davor und erfindet hundert Wege, es zu beschreiben.
»Die Rote Blume?«, fragte Mowgli. »Sie wächst in der Dämmerung vor ihren Hütten. Ich werde sie holen.«
»Da spricht das Menschenkind«, sagte Bagheera stolz. »Denke daran, dass sie in kleinen Töpfen wächst. Besorge dir schnell einen und bewahre ihn bei dir auf, wenn du ihn brauchst.«
»Gut!« sagte Mowgli. »Ich gehe. Aber bist du sicher, Bagheera«, er schlang seinen Arm um den prächtigen Hals und schaute tief in die großen Augen, »bist du sicher, dass dies alles das Werk von Shere Khan ist?«
»Beim zerbrochenen Schloss, das mich befreit hat; ich bin sicher, Kleiner Bruder.«
»Dann werde ich Shere Khan bei dem Stier, der mich gekauft hat, die volle Summe dafür bezahlen, und es kann ein wenig mehr sein«, sagte Mowgli und sprang davon.
»Das ist ein Mensch. Das alles ist ein Mensch«, sagte Bagheera zu sich selbst und legte sich wieder hin. »Oh, Shere Khan, nie war die Jagd schwärzer als deine Froschjagd vor zehn Jahren!«
Die Rote Blume
Mowgli rannte immer weiter durch den Wald, und sein Herz glühte. Er erreichte die Höhle, als der Abendnebel aufstieg, holte tief Luft und schaute hinunter ins Tal. Die Jünglinge waren weg, aber Mutter Wolf, am Ende der Höhle, erkannte an seinem Atem, dass etwas ihren Frosch beunruhigte.
»Was ist los, mein Sohn?«, fragte sie.
»Das Geschwätz einer Fledermaus über Shere Khan«, gab er zurück. »Ich jage heute Nacht zwischen den gepflügten Feldern«, und er stürzte durch die Büsche hinunter zum Fluss am Ende des Tals.
Dort hielt er inne, denn er hörte den Schrei des jagenden Rudels, hörte das Brüllen eines gejagten Sambhur und das Schnauben, als der Bock sich in der Bucht umdrehte. Dann ertönte ein böses, bitteres Heulen der jungen Wölfe: »Akela! Akela! Lasst den Einsamen Wolf seine Stärke demonstrieren. Platz für den Anführer des Rudels! Spring, Akela!« Der Einsame Wolf musste gesprungen sein und seinen Halt verloren haben, denn Mowgli hörte das Knirschen seiner Zähne gefolgt von einem Jaulen, als der Sambhur ihn mit seinem Vorderfuß umstieß.
Er wartete nicht länger, sondern rannte weiter, und die Schreie hinter ihm wurden immer schwächer, als er in das Ackerland lief, wo die Dorfbewohner lebten.
»Bagheera sagte die Wahrheit«, keuchte er, als er sich am Fenster einer Hütte in etwas Viehfutter einkuschelte. »Morgen ist ein Tag für Akela und für mich.«
Er drückte sein Gesicht dicht an das Fenster und beobachtete das Feuer auf dem Herd. Er sah, wie die Frau des Hausherrn aufstand und es in der Nacht mit schwarzen Klumpen fütterte. Als der Morgen kam und der Nebel weiß und kalt war, sah er, wie das Kind des Mannes einen Weidenkorb nahm, der innen mit Erde verputzt war, ihn mit glühenden Holzkohleklumpen füllte, ihn unter seine Decke steckte und hinausging, um die Kühe im Stall zu hüten.
»Ist das alles?«, sagte Mowgli. »Wenn ein Junges das kann, gibt es nichts zu fürchten.«
Er ging um die Ecke und traf den Jungen, nahm ihm den Korb aus der Hand und verschwand im Nebel, während der Junge vor Angst heulte.
»Sie sind mir sehr ähnlich«, sagte Mowgli und pustete in den Korb, wie er es die Frau hatte tun sehen. »Dieses Ding wird sterben, wenn ich ihm nicht etwas zu essen gebe«, und er ließ Zweige und getrocknete Rinde auf das rote Zeug fallen. Halbwegs den Hügel hinauf traf er Bagheera, auf dessen Fell der Morgentau wie Mondsteine glänzte.
»Akela hat versagt«, sagte der Panther. »Sie hätten ihn letzte Nacht getötet, aber sie brauchten dich ebenfalls. Sie haben auf dem Hügel nach dir gesucht.«
»Ich war bei den gepflügten Feldern. Ich bin bereit. Schau!« Mowgli hielt den Feuertopf hoch.
»Gut! Ich habe gesehen, wie Menschen einen trockenen Ast in das Zeug gesteckt haben, und schon blühte die Rote Blume an seinem Ende. Hast du keine Angst?«
»Nein. Warum sollte ich mich fürchten? Ich erinnere mich jetzt – wenn es kein Traum ist – wie ich, bevor ich ein Wolf war, neben der Roten Blume lag, und es war warm und angenehm.«
Den ganzen Tag über saß Mowgli in der Höhle, hütete seinen Feuertopf und tauchte trockene Zweige hinein, um zu sehen, wie sie aussahen. Er fand einen Ast, der ihm gefiel, und als Tabaqui am Abend in die Höhle kam und ihm unhöflich mitteilte, dass er am Ratsfelsen verlangt wurde, lachte er, bis Tabaqui davonlief. Dann ging Mowgli zum Ratsfelsen, immer noch lachend.
Akela, der Einsame Wolf, lag an der Seite seines Felsens, als Zeichen, dass die Führung des Rudels offen war. Shere Khan mit seinem Gefolge von abgewrackten Wölfen ging unverhohlen hin und her und fühlte sich geschmeichelt. Bagheera lag dicht neben Mowgli, und der Feuertopf stand zwischen Mowglis Knien. Als sie alle versammelt waren, begann Shere Khan zu sprechen – etwas, das er nie gewagt hätte, als Akela in seiner Blütezeit war.
»Er hat kein Recht«, flüsterte Bagheera. »Sag es. Er ist der Sohn eines Hundes. Er wird sich fürchten.«
Mowgli sprang auf seine Füße. »Freies Volk«, rief er, »führt Shere Khan das Rudel an? Was hat ein Tiger mit unserer Führung zu tun?«
»Da die Führung noch offen ist und ich gebeten wurde, zu sprechen …«, begann Shere Khan.
»Von wem?«, fragte Mowgli. »Sind wir alle Schakale, die vor diesem Viehschlächter mit dem Schwanz wedeln? Die Führung des Rudels obliegt allein dem Rudel.«
»Schweig, du Menschenkind!«, schrieen die anderen. »Lasst ihn sprechen. Er hat sich an unser Gesetz gehalten.«
Und schließlich donnerten die Ältesten des Rudels: »Lasst den Toten Wolf sprechen.«
Wenn ein Anführer des Rudels seine Beute verfehlt hat, wird er der Tote Wolf genannt, solange er lebt, was nicht sehr lange ist.
Akela hob müde sein altes Haupt: »Freies Volk, und auch ihr, Schakale von Shere Khan. Seit zwölf Jahren führe ich euch zur Jagd und wieder zurück, und in all dieser Zeit wurde kein einziger gefangen oder verstümmelt. Jetzt habe ich meine Beute verfehlt. Ihr wisst, wie dieser Plan entstanden ist. Ihr wisst, wie ihr mich zu einem unerfahrenen Bock gebracht habt, um meine Schwäche zu offenbaren. Das war schlau gemacht. Es ist euer Recht, mich jetzt, hier auf dem Ratsfelsen zu töten. Also frage ich: Wer kommt, um dem Einsamen Wolf ein Ende zu bereiten? Denn nach dem Gesetz des Dschungels ist es mein Recht, dass ihr einer nach dem anderen kommt.«
Es herrschte ein langes Schweigen, denn kein einziger Wolf wollte mit Akela bis zum Tode kämpfen.
Dann brüllte Shere Khan: »Bah! Was kümmert uns dieser zahnlose Narr? Er ist zum Sterben verdammt! Es ist der Menschenjunge, der zu lange gelebt hat. Freies Volk, er war von Anfang an mein Fleisch. Gebt ihn mir. Ich habe genug von dieser Mensch-Wolf-Torheit. Er hat den Dschungel zehn Jahre lang geplagt. Gebt mir den Menschenjungen, oder ich werde für immer hier jagen und euch keinen einzigen Knochen abgeben. Er ist ein Mensch, ein Menschenkind, und ich hasse ihn aus tiefstem Herzen!«
Da schrie mehr als die Hälfte des Rudels: »Ein Mensch! Ein Mensch! Was hat ein Mensch mit uns zu tun? Lasst ihn an seinen eigenen Ort gehen.«
»Und alle Leute in den Dörfern gegen uns aufhetzen?«, schrie Shere Khan. »Nein, gebt ihn mir. Er ist ein Mensch, und keiner von uns kann ihm in die Augen sehen.«
Akela hob erneut den Kopf und sagte: »Er hat unser Essen gegessen. Er hat mit uns geschlafen. Er hat das Wild für uns erlegt. Er hat kein Wort des Dschungelgesetzes gebrochen.«
»Außerdem habe ich für ihn mit einem Stier bezahlt, als er aufgenommen wurde. Der Wert eines Stieres ist gering, aber Bagheeras Ehre ist etwas, wofür er vielleicht kämpfen würde«, sagte Bagheera mit seiner sanftesten Stimme.
»Ein Stier, gezahlt vor zehn Jahren!«, knurrte das Rudel. »Was kümmern uns zehn Jahre alte Knochen?«
»Oder ein Versprechen?«, sagte Bagheera, seine weißen Zähne unter der Lippe entblößend. »Nun, ihr nennt euch das Freie Volk!«
»Kein Menschenkind kann mit den Geschöpfen des Dschungels laufen«, heulte Shere Khan. »Gebt ihn mir!«
»Er ist unser Bruder. In jeder Hinsicht, außer des Blutes«, fuhr Akela fort, »und ihr wollt ihn hier töten! In Wahrheit habe ich zu lange gelebt. Einige von euch sind Viehfresser, und von anderen habe ich gehört, dass ihr unter Shere Khans Anleitung, in der Nacht Kinder von der Türschwelle der Dorfbewohner wegreißt. Daher weiß ich, dass ihr Feiglinge seid, und es sind Feiglinge zu denen ich spreche. Es ist gewiss, dass ich sterben muss, und mein Leben ist wertlos, sonst würde ich es anstelle des Menschenkindes opfern. Aber um der Ehre des Rudels willen – eine Kleinigkeit, die ihr vergessen habt, da ihr ohne Anführer seid – verspreche ich, dass ich, wenn ihr das Menschenjunge an seinen eigenen Ort gehen lässt, keinen einzigen Zahn gegen euch blecken werde, wenn meine Zeit zum Sterben kommt. Ich werde sterben, ohne zu kämpfen. Das wird dem Rudel wenigstens drei Leben retten. Mehr kann ich nicht tun. Aber wenn ihr wollt, kann ich euch die Schande ersparen, die damit einhergeht, wenn ihr einen Bruder tötet, gegen den es keine Schuld gibt – einen Bruder, für den gesprochen wurde und der nach dem Gesetz des Dschungels in das Rudel aufgenommen wurde.«
»Er ist ein Mensch – ein Mensch – ein Mensch!«, knurrte das Rudel. Und die meisten Wölfe begannen, sich um Shere Khan zu scharen, dessen Schwanz sich hin und her bewegte.
»Jetzt liegt die Sache in deinen Händen«, sagte Bagheera zu Mowgli. »Wir können nichts mehr tun, außer zu kämpfen.«
Mowgli richtete sich auf, den Feuertopf in der Hand. Dann streckte er seine Arme aus und gähnte dem Rat ins Gesicht, aber er war wütend und traurig, denn die Wölfe hatten ihm nie gesagt, wie sehr sie ihn hassten.
»Hört zu!«, rief er. »Es gibt keinen Grund für dieses Hundegeschwätz. Ihr habt mir heute Abend so oft gesagt, dass ich ein Mensch bin (und ja, ich wäre mit euch bis an mein Lebensende ein Wolf gewesen), dass ich spüre, dass eure Worte wahr sind. Deshalb nenne ich euch nicht länger meine Brüder, sondern niedere Hunde, wie es sich für einen Menschen gehört. Was ihr tun werdet und was nicht, könnt ihr nicht sagen. Das ist meine Sache. Und damit wir die Sache besser verstehen, habe ich, der Mensch, ein wenig von der Roten Blume mitgebracht, die ihr, die Hunde, fürchtet.«
Er warf den Feuertopf auf den Boden, und einige der roten Kohlen entzündeten ein Büschel getrocknetes Moos, das aufloderte, während der ganze Rat vor Schreck vor den züngelnden Flammen zurückwich. Mowgli stieß seinen toten Ast ins Feuer, bis die Zweige brannten und knisterten, und wirbelte ihn über seinem Kopf zwischen den kauernden Wölfen herum.
»Du bist der Meister«, sagte Bagheera mit einem Unterton. »Rette Akela vor dem Tod. Er war immer dein Freund.«
Akela, der grimmige alte Wolf, der noch nie in seinem Leben um Gnade gebeten hatte, warf einen mitleidigen Blick auf Mowgli, als der Junge nackt dastand, sein langes schwarzes Haar über die Schultern geworfen im Licht des lodernden Astes, der die Schatten springen und zittern ließ.
»Gut!« sagte Mowgli und starrte langsam in die Runde. »Ich sehe, dass ihr Hunde seid. Ich gehe von euch zu meinem eigenen Volk – wenn es mein eigenes Volk ist. Der Dschungel ist für mich verschlossen, und ich muss eure Sprache und eure Freundschaft vergessen. Aber ich werde barmherziger sein als ihr es seid. Weil ich alles außer euer Bruder im Blute war, verspreche ich, dass ich, wenn ich ein Mann unter Menschen bin, euch nicht an die Menschen verraten werde, wie ihr mich verraten habt.« Er trat mit dem Fuß gegen das Feuer, und die Funken flogen auf. »Es soll keinen Krieg zwischen uns im Rudel geben. Doch bevor ich gehe, habe ich noch eine Schuld zu begleichen.«
Er schritt vorwärts zu Shere Khan, der dümmlich in die Flammen blinzelte, und packte ihn am Büschel seines Kinns. Bagheera folgte ihm für den Fall eines Unglücks.
»Steh auf, Hund!« rief Mowgli. »Steh auf, wenn ein Mensch spricht, oder ich werde diesen Mantel in Brand stecken!«
Shere Khans Ohren lagen flach an seinem Kopf, und er schloss die Augen, denn der brennende Ast war ganz nah.
»Dieser Viehmörder sagte, er würde mich im Rat töten, weil er mich als Jungtier nicht getötet hatte. So und so schlagen wir Hunde, wenn wir Menschen sind. Bewege nur ein Schnurrhaar, Lungri, und ich ramme dir die Rote Blume in den Schlund!« Er schlug Shere Khan den Ast auf den Kopf, und der Tiger wimmerte und winselte vor Todesangst.
»Pah! Angesengte Dschungelkatze – geh jetzt! Aber denk daran. Wenn ich das nächste Mal zum Ratsfelsen komme, wie es sich für einen Mann gehört, werde ich Shere Khans Fell auf meinem Kopf tragen. Im Übrigen, steht es Akela frei, zu leben wie er will. Ihr werdet ihn nicht töten, denn das ist nicht mein Wille. Ich glaube auch nicht, dass ihr noch länger hier sitzen und eure Zungen herausstrecken werdet, als wärt ihr jemand und nicht die Hunde, die ich vertreibe – so! Geht!«
Das Feuer brannte heftig am Ende des Astes, und Mowgli schlug rechts und links im Kreis herum, und die Wölfe rannten heulend davon, während die Funken ihr Fell verbrannten. Schließlich waren nur noch Akela, Bagheera und vielleicht zehn Wölfe, die auf Mowglis Seite standen, übrig. Da begann etwas in Mowgli wehzutun, wie es ihm noch nie zuvor in seinem Leben wehgetan hatte. Er schnappte nach Luft und schluchzte, und Tränen liefen ihm übers Gesicht.
»Was ist das? Was ist los?«, fragte er. »Ich will den Dschungel nicht verlassen, und ich weiß nicht, was das ist. Sterbe ich, Bagheera?«
»Nein, Kleiner Bruder. Das sind nur Tränen, wie sie Menschen benutzen«, sagte Bagheera. »Jetzt weiß ich, dass du ein Mann bist, und nicht länger ein Menschenkind. Der Dschungel ist für dich von nun an verschlossen. Lass sie fallen, Mowgli. Es sind nur Tränen.«
So saß Mowgli da und weinte, als würde sein Herz zerbrechen, und er hatte in seinem ganzen Leben noch nie zuvor geweint.
»Jetzt«, sagte er, »werde ich zu den Menschen gehen. Aber zuerst muss ich meiner Mutter Lebewohl sagen.«
Und er ging zu der Höhle, in der sie mit Vater Wolf lebte, und weinte in ihr Fell, während die vier Jungen jämmerlich heulten.
»Ihr werdet mich doch nicht vergessen?«, sagte Mowgli.
»Nicht solange wir deiner Spur folgen können«, sagten die Jungen. »Komm an den Fuß des Hügels, wenn du ein Mensch bist, und wir werden mit dir reden; und wir werden in die Felder kommen, um mit dir in der Nacht zu spielen.«
»Komm bald.« sagte Vater Wolf. »Oh, weiser kleiner Frosch, komm bald wieder; denn wir sind alt, deine Mutter und ich.«
»Komm bald«, sagte Mutter Wolf, »mein kleiner nackter Sohn. Denn, hör zu, Menschenkind, ich habe dich mehr geliebt, als ich je meine Jungen geliebt habe.«
»Ich werde sicher kommen«, sagte Mowgli. »Und wenn ich komme, werde ich Shere Khans Fell auf dem Ratsfelsen ausbreiten. Vergesst mich nicht. Sagt ihnen im Dschungel, dass sie mich nie vergessen sollen.«
Die Morgendämmerung brach gerade an, als Mowgli alleine den Hang hinunterging, um diese geheimnisvollen Wesen zu treffen, die man Menschen nennt.