Kapitel 4 Orient-Express
Der Orient-Express, in dem Carlton und die Geliebte seines Herzens und seiner Phantasie dem äußersten purpurnen Rand des Horizonts entgegenfuhren, bestand aus sechs Wagen, einem Speisewagen mit angeschlossenem Raucherabteil und fünf Schlafwagen, darunter der für den Herzog von Hohenwald und sein Gefolge reservierte Wagen. Diese Wagen waren leicht gebaut und schwankten daher, und der Staub, der durch die rasche Bewegung des Zuges aufgewirbelt wurde, drang durch Ritzen und offene Fenster und überzog die Passagiere mit einem feinen und irritierenden Belag aus Ruß und Erde. Für alle zweiundzwanzig Reisenden gab es einen Bediensteten. Er sprach acht Sprachen und schlief nie, aber da seine Dienste von mehreren Personen in ebenso vielen verschiedenen Waggons gleichzeitig in Anspruch genommen wurden, konnte er niemanden zufrieden stellen, und der Beschwerdekasten im Raucherabteil war folglich bis zum Anschlag gefüllt, bevor sie die Grenzen Frankreichs überquert hatten.
Carlton und Miss Morris gingen auf eine der Plattformen hinaus und setzten sich auf einen Werkzeugkasten. »Hier ist es nicht so gemütlich wie in einem Aussichtswagen zu Hause«, sagte Carlton, »aber es ist genauso laut.«
Von Zeit zu Zeit wies er sie auf die Bauern hin, die Zweige sammelten, und auf die Gendarmen in blauen Kitteln, die den Wald und die Zäune bewachten, die ihn umgaben. »In diesem Land darf nichts verloren gehen«, sagte er. »Es sieht so aus, als ob sie einmal im Monat mit einem Rasenmäher und einer Hippe darüber gehen. Ich glaube, sie nummerieren die Bäume so, wie wir die Häuser nummerieren.«
»Und haben Sie die großen, mit Gras bewachsenen Befestigungsanlagen gesehen?«, fragte sie. »Wir sind an so vielen vorbeigekommen.«
Carlton nickte.
»Und ist Ihnen aufgefallen, dass sie alle nur in eine Richtung zeigen?«
Carlton lachte, und nickte wieder. »In Richtung Deutschland«, sagte er.
Am nächsten Tag hatten sie die hohen Pappeln und die weißen Straßen hinter sich gelassen und durchquerten das Land der niedrigen, glänzenden schwarzen Helme und Messingspitzen. Sie kamen in ein Land mit niedrigen Bergen und schwarzen Wäldern, mit alten, befestigten Schlössern, die die Hügel überragten, und mit rotgedeckten Dörfern, die um den Fuß herum verstreut lagen.
»Wie militärisch das alles aussieht!« sagte Mrs. Downs. »Sogar die Männer an den einsamen kleinen Bahnhöfen in den Wäldern tragen Uniformen, und habt Ihr bemerkt, wie jeder von ihnen seine rote Fahne zusammenrollt und sie wie ein Schwert hält und den Zug grüßt, wenn er vorbeifährt?«
Sie verbrachten die Stunde, in der der Zug von einem Bahnhof in Wien zum anderen fuhr, in einem offenen Wagen, hielten einige Augenblicke vor einem Café an, um Bier zu trinken und wieder festen Boden unter sich zu spüren, und kehrten mit einem Gefühl zurück, das fast dem der Rückkehr in ihre eigenen Zimmer entsprach. Dann kamen sie in große Steppen, die mit langem, dichtem Gras bedeckt und an manchen Stellen mit kleinen Seen aus gebrochenem Eis überschwemmt waren; große Rinder standen knietief im Gras, und in den Dörfern und an den Zwischenstationen standen Menschen in Schafsfelljacken und Westen mit Silberknöpfen. In einem Ort wartete ein Hochzeitszug auf die Durchfahrt des Zuges, mit den Freunden des Brautpaares in ihren besten Kleidern, die Frauen mit silbernen Brustpanzern und Stiefeln bis zu den Knien. Es schien kaum möglich, dass sie erst zwei Tage zuvor eine andere Hochzeitsgesellschaft auf den Champs Élysées gesehen hatten, bei der die Männer Abendgarderobe trugen und die Frauen barhäuptig und mit langen Schleppen waren. In achtundvierzig Stunden hatten sie Republiken, Fürstentümer, Kaiserreiche und Königreiche durchquert und waren vom Frühling zum Winter übergegangen. Es war, als würde man im Eiltempo über ein gemaltes Panorama von Europa laufen.
Am zweiten Abend begab sich Carlton allein ins Raucherabteil. Der Herzog von Hohenwald und zwei seiner Freunde hatten ein spätes Abendessen eingenommen und saßen im Abteil nebenan. Der Herzog war ein junger Mann mit einem dichten Bart und einer Brille. Er blätterte in einem illustrierten Katalog des Salons, und als Carlton sich auf das Sofa gegenüber fallen ließ, hob der Herzog den Kopf und sah ihn neugierig an, blätterte dann mehrere Seiten des Katalogs um und studierte eine davon, dann wieder Carlton, als ob er ihn mit etwas auf der Seite vor ihm vergleichen würde. Carlton blickte in die Nacht hinaus, aber er konnte das Geschehen verfolgen, da es sich im Glas des Wagenfensters spiegelte. Er sah, wie der Herzog den Katalog einem der Stallmeister übergab, der die Augenbrauen hochzog und zustimmend nickte. Carlton fragte sich, was das bedeuten könnte, bis er sich daran erinnerte, dass im Salon ein Porträt von ihm selbst von einem französischen Künstler ausgestellt war, und schloss daraus, dass es im Katalog abgebildet war. Er konnte sich nichts anderes vorstellen, was das Interesse der beiden Männer an ihm erklären würde.
Am nächsten Morgen schickte er Nolan los, um an der ersten Station, an der sie anhielten, einen Katalog zu kaufen, und stellte fest, dass seine Vermutung richtig war. Ein Porträt von ihm selbst war in Schwarz-Weiß abgebildet, darunter stand sein Name.
»Nun, sie wissen jetzt, wer ich bin«, sagte er zu Miss Morris, »auch wenn sie mich nicht kennen. Diese Ehre wird ihnen noch zuteil.«
»Ich wünschte, sie würden sich nicht so sehr abschotten«, sagte Miss Morris. »Ich möchte sie so gerne sehen. Können wir nicht an der nächsten Station auf dem Bahnsteig auf- und abgehen? Sie könnte am Fenster stehen.«
»Natürlich«, sagte Carlton. »Sie hätten sie in Budapest sehen können, wenn Sie davon gesprochen hätten. Da ist sie auf- und abgegangen. Wenn der Zug das nächste Mal hält, werden wir auf- und abschleichen und unsere Augen an ihr weiden.«
Aber Miss Morris wurde ihr Wunsch ohne diese Anstrengung erfüllt. Die Hohenwalds wurden im Speisewagen bedient, nachdem die anderen Fahrgäste fertig waren, und waren daher nur zu sehen, wenn sie an den Türen der anderen Abteile vorbeikamen. An diesem Morgen jedoch kehrten die drei Prinzessinnen nach dem Mittagessen nicht in ihren eigenen Wagen zurück, sondern setzten sich in das Abteil, das an den Speisewagen angrenzte, während die Männer ihrer Gruppe ihre Zigarren anzündeten und in einem Kreis um sie herumsaßen.
»Ich habe mich schon gefragt, wie lange sie es aushalten, dass drei Männer in einer dieser Kisten, die sie Wagen nennen, rauchen«, sagte Mrs. Downs. Sie saß zwischen Miss Morris und Carlton, direkt gegenüber den Hohenwalds, und so nahe bei ihnen, dass sie flüstern musste. Um dies zu vermeiden, bat Miss Morris Carlton um einen Bleistift und kritzelte damit in den Roman, den sie auf ihrem Schoß hielt. Dann reichte sie ihm beides zurück und sagte laut: »Haben Sie das gelesen? Es hat so eine schöne Widmung.« Die Widmung lautete: »Welche ist Aline?« Und Carlton nahm seinerseits den Stift, zeichnete schnell eine Skizze von ihr auf das Vorsatzblatt und schrieb darunter: Das ist sie. Wundert es Sie, dass ich viertausend Meilen gereist bin, um sie zu sehen?
Miss Morris nahm das Buch wieder in die Hand, betrachtete die Skizze, dann die drei Prinzessinnen und nickte mit dem Kopf. »Es ist sehr schön«, sagte sie mit ernster Miene und blickte auf die vorbeiziehende Landschaft.
»Nun, nicht gerade schön«, antwortete Carlton und betrachtete die Hügel kritisch, »aber sicherlich sehr attraktiv. Es lohnt sich, einen weiten Weg zu fahren, um es zu sehen, und ich denke, es wird einem sehr ans Herz wachsen.«
Miss Morris riss das Vorsatzblatt aus dem Buch und schob es zwischen die Seiten. »Darf ich es behalten?«
Carlton nickte.
»Und werden Sie es signieren?«, fragte sie lächelnd.
Carlton zuckte mit den Schultern und lachte. »Wenn Sie es wünschen«, antwortete er.
Die Prinzessin trug ein graues Reisekleid, wie ihre Schwestern, und einen grauen Alpenhut. Sie lehnte sich zurück, sprach mit dem englischen Captain, der sie begleitete, und lachte. Carlton glaubte, noch nie eine Frau gesehen zu haben, die so sehr jenen Geschmack ansprach, den er besaß. Sie wirkte so selbstsicher, so wach und doch so anmutig, so leicht zu unterhalten, und doch, wenn sie ihren Blick auf die seltsame, düstere Landschaft richtete, so ernsthaft auf deren traurige Schönheit bedacht. Der englische Captain senkte den Kopf und tat so, als ob er an seinem Schnurrbart zupfte, und bedeckte seinen Mund, während er zu ihr sprach. Als er geendet hatte, blickte er bewusst zum Dach des Wagens, und sie hielt ihren Blick fest auf das Objekt gerichtet, dem sie sich zugewandt hatte, als er aufgehört hatte zu sprechen, und wandte dann, nach einer angemessenen Pause, ihren Blick, wie Carlton wusste, dass sie es tun würde, zu ihm.
»Er hat ihr erzählt, wer ich bin«, dachte er, »und von dem Bild im Katalog.«
Nach wenigen Augenblicken drehte sie sich zu ihrer Schwester und sprach mit ihr, wobei sie auf etwas in der Landschaft zeigte, und dieselbe Pantomime wiederholte sich, und nochmals mit der dritten Schwester.
»Haben Sie gesehen, wie die Mädchen über Sie gesprochen haben, Mr. Carlton?« fragte Miss Morris, nachdem sie den Wagen verlassen hatten.
Carlton sagte, dass es so aussah, als ob sie es getan hätten.
»Natürlich haben sie das«, sagte Miss Morris. »Dieser Engländer hat der Prinzessin Aline etwas über Sie erzählt, und dann hat sie es ihrer Schwester erzählt, und die hat es der Ältesten erzählt. Es wäre doch schön, wenn sie das Interesse ihres Vaters an der Malerei erben würden, oder?«
»Mir wäre es lieber, wenn es in ein Interesse an Malern ausarten würde«, sagte Carlton.
Als Miss Morris zu ihrem Wagen zurückkehrte, bemerkte sie, dass sie den Roman dort liegen gelassen hatte, wo sie gesessen hatte, und Carlton schickte Nolan zurück, um ihn zu holen. Er war auf den Boden gerutscht, und das Deckblatt, auf dem Carlton die Prinzessin Aline skizziert hatte, lag mit dem Gesicht nach unten daneben. Nolan hob das Blatt auf, sah das Bild und las die Inschrift darunter: Das ist sie. Wundert es Sie, dass ich viertausend Meilen gereist bin, um sie zu sehen?
Er übergab das Buch an Miss Morris und wollte gerade das Abteil verlassen, als sie ihn aufhielt.
»Da war eine lose Seite drin, Nolan«, sagte sie. »Sie ist weg; haben Sie sie gesehen?«
»Eine lose Seite, Miss?«, sagte Nolan mit einiger Besorgnis. »Oh ja, Miss; ich wollte es Ihnen gerade sagen; da war ein Stück Papier, das weggeweht wurde, als ich zwischen den Wagen hindurchging. War es etwas, das Sie wollten, Miss?«
»Etwas, das ich wollte!«, rief Miss Morris bestürzt aus.
Carlton lachte leicht. »Es ist gut, dass ich es nicht unterschrieben habe«, sagte er. »Ich möchte nicht jedem ungarischen Landstreicher, der zufällig Englisch liest, meine Ergebenheit bekunden.«
»Sie müssen mir noch eines zeichnen, als Souvenir«, sagte Miss Morris.
Nolan ging weiter durch den ganzen Wagen, bis er den von den Hohenwalds besetzten erreicht hatte, wo er auf der Plattform wartete, bis das englische Dienstmädchen ihn sah und an die Wagentür kam.
»In welchem Hotel werden Ihre Leute in Konstantinopel übernachten?« fragte Nolan.
»Das Grande-Bretagne, glaube ich«, antwortete sie.
»Ganz recht.«, sagte Nolan anerkennend. »Da werden wir auch sein. Ich dachte, ich komme vorbei und erzähle Ihnen davon. Und nebenbei«, sagte er, »hier ist ein Bild, das jemand von Ihrer Prinzessin Aline gemacht hat. Sie hat es fallen lassen, und ich habe es aufgehoben. Sie sollten es ihr besser zurückgeben. Nun«, fügte er höflich hinzu, »ich bin froh, dass Sie in unser Hotel in Konstantinopel kommen; es ist angenehm, jemanden zu haben, mit dem man sich unterhalten kann, der die eigene Sprache spricht.«
Das Mädchen ging in den Wagen zurück und ließ Nolan allein auf der Plattform zurück. Er atmete einen langen Atemzug unterdrückter Aufregung aus und blickte sich dann nervös in der leeren Landschaft um.
»Ich glaube, das wird die Dinge ein wenig beschleunigen«, murmelte er mit einem besorgten Lächeln, »ohne mich würde er überhaupt nicht vorankommen.«