Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 1 Kapitel 2

Aber wir wollen diese Geschichte mit einem Sommermorgen vor langer Zeit beginnen, als Mrs. Forrester noch eine junge Frau war, und Sweet Water eine Stadt war, von der man Großes erwartete. An jenem Morgen stand sie im tiefen Erkerfenster ihres Salons und arrangierte altmodische, rosarote Rosen in einer Glasschale. Als sie aufblickte, sah sie eine Gruppe kleiner Jungen, die barfuß, mit Angelruten und Essenskörben die Auffahrt entlang kamen. Sie kannte die meisten von ihnen: da war Niel Herbert, Richter Pommeroys Neffe, ein hübscher Junge von zwölf Jahren, den sie mochte, und der höfliche George Adams, Sohn eines Gentleman-Ranchers aus Lowell, Massachusetts. Die anderen waren nur kleine Jungen aus der Stadt: der rothaarige Sohn des Metzgers, die dicken Zwillinge des führenden Lebensmittelhändlers, Ed Elliott (dessen koketter alter Vater ein Schuhgeschäft führte und der Don Juan der Unterwelt von Sweet Water war) und die beiden Söhne des deutschen Schneiders – blasse, sommersprossige Jungs mit zerlumpter Kleidung und zerzaustem rostfarbenem Haar, von denen sie manchmal Wild oder Wels kaufte, wenn sie stumm und gespenstisch an ihrer Küchentür auftauchten und dünn fragten, ob sie »heute Morgen Fisch haben möchte.«

Als die Jungen den Hügel hinaufkamen, sah sie, wie sie zögerten und sich gemeinsam berieten.

»Frag du sie, Niel.«

»Das machst du besser, George. Sie geht ständig zu deinem Haus, und sie kennt mich kaum, um mit mir zu sprechen.«

Als sie vor den drei Stufen, die zur Veranda hinaufführten, innehielten, kam Mrs. Forrester zur Tür und nickte freundlich, eine der rosa Rosen in der Hand.

»Guten Morgen, Jungs. Macht ihr ein Picknick?«

George Adams trat vor und nahm feierlich seinen großen Strohhut ab. »Guten Morgen, Mrs. Forrester. Dürfen wir unten im Sumpf angeln und unser Mittagessen im Hain essen?«

»Natürlich. Ich wünsche euch einen schönen Tag. Wie lange ist die Schule schon aus? Vermisst ihr sie nicht? Ich bin sicher, Niel vermisst sie. Richter Pommeroy sagte mir, er sei sehr fleißig.«

Die Jungen lachten, und Niel sah unglücklich aus.

»Geht, und passt auf, dass ihr das Tor zur Weide nicht offen lasst. Mr. Forrester hasst es, wenn das Vieh sich über sein Rispengras hermacht.«

Die Jungen gingen leise um das Haus herum zum Tor in den Hain und rannten dann schreiend die grasbewachsenen Hänge unter den hohen Bäumen hinunter. Mrs. Forrester beobachtete sie vom Küchenfenster aus, bis sie hinter der Hügelkette verschwunden waren. Dann wandte sie sich an ihre Köchin.

»Mary, wenn du heute Morgen backst, schieb ein Blech mit Keksen für die Jungs hinein. Ich bringe sie runter, wenn sie zu Mittag essen.«

Der runde Hügel, auf dem das Haus der Forresters stand, fiel sanft zur Brücke davor und sanft durch das Wäldchen dahinter ab. Aber östlich des Hauses, wo der Hain endete, brach es steil wie Klippen von hohen grasbewachsenen Ufern, in den Sumpf darunter, ab. Dorthin waren die Jungen unterwegs.

Als es Mittag wurde, hatten sie nichts von dem getan, was sie vorhatten. Sie hatten sich den ganzen Vormittag wie wilde Tiere benommen. Sie riefen von den luftigen Klippen; stürzten durch die taufrischen Spinnweben, die auf dem hohen Unkraut glitzerten, in den silbrigen Sumpf hinunter; sausten durch die blassbraunen Rohrkolben; wateten im sandigen Bachbett; jagten eine gestreifte Wasserschlange von dem alten Weidenstumpf, auf dem sie sich sonnte; schnitzten Zwillen aus Astgabeln; und warfen sich auf den Bauch, um an der kühlen Quelle zu trinken, die unter einer Böschung in ein Gestrüpp aus dunkler Brunnenkresse floss. Nur die beiden deutschen Jungen, Rheinhold und Adolph Blum, zogen sich in ein stilles Becken zurück, wo der Bach durch einen liegenden Baumstamm gestaut wurde, und schafften es trotz des Lärms und des Geplätscher um sie herum, ein paar Blutegel zu fangen.

Die Wildrosen waren weit geöffnet und leuchteten, das blauäugige Gras blühte violett, und das silbrige Milchkraut begann gerade zu blühen. Überall flogen Vögel und Schmetterlinge umher. Plötzlich verstummte die Brise, die Luft wurde sehr heiß, das Moor dampfte, und die Vögel verschwanden. Die Jungen waren müde, ihre Hemden klebten an ihren Körpern und ihre Haare an ihrer Stirn. Sie verließen die schwülen Sumpfwiesen und gingen in den Hain, legten sich auf das saubere Gras im dankbaren Schatten der hohen Pappeln und breiteten ihr Mittagessen aus. Die Blum-Jungs hatten nie etwas anderes als Roggenbrot und trockene Käsestücke mitgebracht, und ihre Kameraden hätten es auf keinen Fall angerührt. Aber Thaddeus Grimes, der rothaarige Sohn des Metzgers, war der einzige, der unhöflich genug war, seine Verachtung zu zeigen.

»Ihr lebt von Würstchen zu Hause, warum bringt ihr nie welche mit?«, brüllte er.

»Sei still«, sagte Niel Herbert. Er deutete auf eine weiße Gestalt, die im flackernden Blätterschatten schnell durch den Hain kam: Mrs. Forrester, barhäuptig, einen Korb auf dem Arm, ihr blauschwarzes Haar glänzte in der Sonne. Erst Jahre später begann sie, Schleier und Sonnenhüte zu tragen, obwohl ihr Teint nie zu ihren Schönheiten gehörte. Ihre Wangen waren blass und eher dünn, im Sommer leicht sommersprossig.

Als sie sich näherte, erhob sich George Adams, der eine besondere Mutter hatte, und Niel folgte seinem Beispiel.

»Hier sind ein paar heiße Kekse für euer Mittagessen, Jungs.« Sie nahm die Serviette aus dem Korb. »Habt ihr etwas gefangen?«

»Wir haben nicht viel geangelt. Wir sind nur herumgerannt«, sagte George.

»Ich weiß! Ihr seid gewatet und so.« Sie hatte eine nette Art, mit Jungen zu reden, leicht und vertraulich. »Ich wate auch manchmal dort unten, wenn ich Blumen hole. Ich kann nicht widerstehen. Ich ziehe meine Strümpfe aus, hebe meine Röcke, und schon bin ich drin!« Sie streckte einen weißen Schuh aus und schüttelte ihn.

»Aber Sie können doch schwimmen, nicht wahr, Mrs. Forrester«, sagte George. »Die meisten Frauen können das nicht.«

»Oh doch, sie können! In Kalifornien schwimmt jeder. Aber das Wasser hier reizt mich nicht – Schlamm und Wasserschlangen und Blutegel – igitt!«, lachte sie.

»Wir haben heute Morgen eine Wasserschlange gesehen und sie gejagt. Ein Riesending!« warf Thad Grimes ein.

»Warum habt ihr sie nicht getötet? Wenn ich das nächste Mal waten gehe, beißt sie mir in die Zehen! Und jetzt macht weiter mit eurem Mittagessen. George kann den Korb bei Mary lassen.« Sie verließ sie, und sie beobachteten ihre weiße Gestalt, die am Rande des Hains entlangschwebte, während sie hier und da stehen blieb, um die Himbeerranken am Zaun zu untersuchen.

»Das sind wirklich gute Kekse«, sagte einer der kichernden braunen Weaver-Zwillinge. Die deutschen Jungen mampften schweigend. Sie waren alle ziemlich froh, dass Mrs. Forrester selbst zu ihnen heruntergekommen war, anstatt Mary zu schicken. Selbst der raue kleine Thad Grimes mit seinem roten Schopf und dem Welsmund – dem charakteristischen Merkmal der gesamten Grimes-Brut – wusste, dass Mrs. Forrester eine ganz besondere Person war. George und Niel waren schon alt genug, um mit eigenen Augen zu sehen, dass sie anders war als die anderen Stadtfrauen, und um darüber nachzudenken, was sie so besonders machte. Die Blum-Brüder betrachteten sie unter ihren blassen, abgekauten Haaren demütig als eine der Reichen und Großen der Welt. Sie waren sich mehr als ihre Kameraden bewusst, dass eine solche glückliche und privilegierte Klasse eine unumstößliche Tatsache in der sozialen Ordnung war.

Die Jungen hatten ihr Mittagessen beendet und lagen im Gras, um sich darüber zu unterhalten, wie Richter Pommeroys Wasserspaniel Fanny vergiftet worden war und wer das wohl getan hatte, als sie einen zweiten Besucher bekamen.

»Haltet die Klappe, Jungs, da kommt er schon. Das ist Poison Ivy«, sagte einer der Weaver-Zwillinge. »Seid still, wir wollen doch nicht, dass der alte Roger vergiftet wird.«

Ein gut gewachsener Junge von achtzehn oder neunzehn Jahren, gekleidet in einen schäbigen Cord-Jagdanzug, mit Gewehr und Jagdtasche, war aus dem Sumpf geklettert und kam den Hain zwischen den Baumreihen hinunter. Er ging mit grobem, arrogantem Schritt, trat gegen die Zweige und trug sich mit unnatürlicher Aufrichtung, als hätte er eine Stahlstange im Rücken. Die Art, wie er seinen Kopf hielt, hatte etwas Aufsässiges und Misstrauisches an sich. Er kam auf die Gruppe zu und sprach sie in einem überlegenen, herablassenden Ton an.

»Hallo, Kinder. Was macht ihr denn hier?«

»Picknick«, sagte Ed Elliott.

»Ich dachte, nur Mädchen machen ein Picknick. Habt ihr eine Lehrerin mitgebracht? Seid ihr noch nicht alt genug, um zu jagen?«

George Adams sah ihn verächtlich an. »Doch, natürlich sind wir das. Ich habe eine 22er Remington zu meinem letzten Geburtstag bekommen. Aber wir wissen, dass man hier keine Waffen mitbringen sollte. Verstecken Sie Ihre lieber, Mr. Ivy, oder Mrs. Forrester wird kommen und Ihnen sagen, dass Sie verschwinden sollen.«

»Vom Haus aus kann sie uns nicht sehen. Und zu mir kann sie sowieso nichts sagen. Ich bin genauso gut wie sie.«

Darauf gaben die Jungen keine Antwort. Eine solche Behauptung war selbst für Thad, der ein großes Mundwerk hatte, absurd: das Geschäft seines Vaters hing davon ab, dass einige Leute besser waren als andere und deshalb bessere Fleischstücke bestellten. Wenn alle Leute Round Steak essen würden wie Ivy Peters’ Familie, gäbe es im Metzgereigewerbe nichts zu holen.

Der Besucher hatte sein Gewehr und seine Jagdtasche hinter einem Baum abgelegt und stand staksig da, beobachtete die Gruppe aus seinen schmalen Augen und sorgte dafür, dass sie sich alle unwohl fühlten. George und Niel hassten es, Ivy anzuschauen, und doch übte sein Gesicht eine gewisse Faszination auf sie aus. Es war rot, und das Fleisch sah hart aus, als wäre es von Bienenstichen oder einer Begegnung mit Giftefeu geschwollen. Seinen Spitznamen erhielt er jedoch, weil bekannt war, dass er mehrere andere Hunde »um die Ecke gebracht« hatte, bevor er den freundlichen Wasserspaniel des Richters vergiftet hatte. Die Jungen sagten, dass, wenn er eine Abneigung gegen einen Hund hatte, er nicht eher ruhen konnte, bis er ihm den Garaus gemacht habe.

Ivys rote Haut war mit winzigen Sommersprossen gesprenkelt, die wie Rostflecken aussahen, und in jeder seiner harten Wangen befand sich eine krause Einbuchtung, wie ein Knoten in einem Baumstamm – zwei permanente Grübchen, die seine Miene alles andere als weich machten. Seine Augen waren sehr klein, und das Fehlen von Wimpern verlieh seinen Pupillen die starre, unbewegliche Härte einer Schlange oder einer Eidechse. Seine Hände hatten das gleiche geschwollene Aussehen wie sein Gesicht, sie waren auf dem Rücken und an den Knöcheln tief gefaltet, als ob die Haut zu straff gespannt wäre. Er war ein hässlicher Kerl, Ivy Peters, und er mochte es, hässlich zu sein.

Er begann den Jungen zu erzählen, dass es jetzt zu heiß zum Jagen sei, aber später wolle er sich in den Sumpf hinunterschleichen, wo die Enten bei Sonnenuntergang auftauchten, und ein paar erlegen.

»Ich kann mich über die Maisfelder davonmachen, bevor der alte Cap mich sieht. Er ist nicht besonders schnell.«

»Er wird sich bei deinem Vater beschweren.«

»Meinem Vater ist das völlig egal!« Die unruhigen Augen des Sprechers blickten durch die Äste nach oben. »Siehst du, wie der Specht klopft? Beachtet uns kein bisschen. Das ist eine Frechheit!«

»Sie sind hier geschützt, also haben sie keine Angst«, sagte George.

»Sie werden dem alten Mann seinen Hain verderben. Der Baum ist schon voller Löcher. Den holen wir ganz leicht runter!«

Niel und George Adams setzten sich auf. »Wage es nicht, hier zu schießen, du bringst uns noch alle in Schwierigkeiten.«

»Sie würde direkt vom Haus herunterkommen«, rief Ed Elliott.

»Lass sie kommen, hochnäsiges Stück! Wer redet hier überhaupt von Schießen? Es gibt mehr Möglichkeiten Hunde zu töten, als sie mit Butter zu ersticken.«

Bei dieser Unverfrorenheit warfen sich die Jungen gegenseitig verwunderte Blicke zu, und die braunen Weaver-Zwillinge brachen gleichzeitig in Kichern aus und wälzten sich auf dem Rasen. Aber Ivy schien nicht zu wissen, dass er als besonders einfallsreich galt, wenn es um Hunde ging. Er zog eine Metallschleuder und einige runde Kieselsteine aus seiner Tasche.

»Ich werde ihn nicht töten. Ich werde ihn nur überraschen, damit wir ihn uns ansehen können.«

»Ich wette, du triffst ihn nicht!«

»Und ob ich das werde!« Er legte einen Stein in die Schleuder, blinzelte und ließ ihn fliegen. Und tatsächlich, der Specht fiel ihm zu Füßen. Er warf seinen schweren schwarzen Filzhut über ihn. Ivy trug nie einen Strohhut, nicht einmal bei heißestem Wetter. »Jetzt warte. Er wird zu sich kommen. Du wirst ihn gleich flattern hören.«

»Es ist jedenfalls kein Er. Es ist ein Weibchen. Das weiß doch jeder«, sagte Niel verächtlich und ärgerte sich, dass dieser unbeliebte Junge kam und ihnen den Nachmittag verdarb. Er hielt das Schicksal des Spaniels seines Onkels gegen Ivy Peters.

»In Ordnung, Miss Weibchen«, sagte Ivy achtlos, der auf ein eigenes Projekt aus war. Er zog eine kleine rote Lederschachtel aus der Tasche, und als er sie öffnete, sahen die Jungen, dass sie seltsame kleine Instrumente enthielt: winzige scharfe Messerklingen, Haken, gebogene Nadeln, eine Säge, ein Blasrohr und eine Schere.

»Einiges davon habe ich mit einer Präparierausrüstung aus dem Youth’s Companion bekommen, anderes habe ich selbst hergestellt.« Er ging steif in die Knie – seine Gelenke schienen sich überhaupt nicht beugen zu wollen – und lauschte neben seinem Hut. »Sie ist so lebhaft wie eine Grille«, verkündete er. Plötzlich schob er seine Hand unter die Hutkrempe und holte den aufgeschreckten Vogel hervor. Er blutete nicht und schien auch nicht verkrüppelt zu sein.

»Jetzt pass auf, und ich werde dir etwas zeigen«, sagte Ivy. Er hielt den Kopf des Spechtes in einem Schraubstock aus Daumen und Zeigefinger und umschloss den keuchenden Körper mit seiner Handfläche. Blitzschnell, als wäre es ein geübter Trick, schlitzte er mit einer dieser winzigen Klingen die beiden Augen auf, die in dem dummen Köpfchen des Vogels funkelten, und ließ ihn sofort wieder frei.

Der Specht erhob sich mit einer wirbelnden, korkenzieherartigen Bewegung in die Luft, flog nach rechts und schlug gegen einen Baumstamm – nach links und schlug gegen einen anderen. Er flog auf und ab, rückwärts und vorwärts durch das Gewirr von Ästen, sträubte sein Gefieder, fiel und fing sich wieder. Die Jungen standen da und beobachteten es, verärgert und unbehaglich, und wussten nicht, was sie tun sollten. Sie waren nicht besonders empfindlich. Thad war immer zur Stelle, wenn es im Schlachthof etwas zu tun gab, und die Blum-Jungs lebten davon, Dinge zu töten. Sie hätten nicht geglaubt, dass ein verletzter Specht sie so aus der Fassung bringen könnte. Es hatte etwas Wildes und Verzweifeltes an sich, wie das verdunkelte Geschöpf in den Ästen mit den Flügeln schlug, im Sonnenlicht herumwirbelte ohne es zu sehen, immer wieder den Kopf energisch streckte und schüttelte, wie ein Vogel, wenn er trinkt. Irgendwann gelang es ihm, auf dem selben Ast zu landen, auf dem er getroffen worden war, und er schien ihn zu erkennen. Als hätte er aus seinen blauen Flecken etwas gelernt, pickte und kroch er den Ast entlang und verschwand in seinem eigenen Loch.

»Da«, rief Niel Herbert zwischen den Zähnen, »wenn ich ihn jetzt erwische, kann ich ihn töten und von seinem Elend befreien. Lass mich auf deinen Rücken, Rhein.«

Rheinhold war der Größte, und er beugte gehorsam seinen knochigen Rücken. Der Stamm einer Pappel ist schwer zu erklimmen, die Rinde ist rau, und die Äste beginnen weit oben. Niel zerriss sich die Hose und zerkratzte sich die nackten Beine, bevor er die erste Gabel erreichte. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, schlängelte er sich zum Spechtloch hinauf, das unangenehm hoch war. Er war fast da, seine Kameraden unten wähnten ihn in Sicherheit, als er plötzlich das Gleichgewicht verlor, einen Salto in der Luft schlug und auf das Gras zu ihren Füßen plumpste. Dort blieb er liegen, ohne sich zu bewegen.

»Holt Wasser!«

»Holt Mrs. Forrester! Frag sie nach Whiskey.«

»Nein«, sagte George Adams, »wir tragen ihn ins Haus. Sie wird wissen, was zu tun ist.«

»Das ist vernünftig«, sagte Ivy Peters. Da er viel größer und stärker war als die anderen, hob er Niels schlaffen Körper hoch und ging den Hügel hinauf. Ihm war in den Sinn gekommen, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, in das Haus der Forresters einzudringen und zu sehen, wie es dort aussah; das hatte er schon immer tun wollen.

Mary, die Köchin, sah sie vom Küchenfenster aus kommen und rannte zu ihrer Herrin. Captain Forrester war an diesem Tag in Kansas City.

Mrs. Forrester kam an die Hintertür. »Was ist passiert? Auch das noch, Niel! Bringt ihn hier herein.«

Ivy Peters folgte ihr, wobei er die Augen offen hielt. Die anderen folgten ihm – alle außer den Blum-Jungs, die wussten, dass ihr Platz vor der Küchentür war. Mrs. Forrester ging voran durch die Anrichtekammer, das Esszimmer, den hinteren Salon zu ihrem eigenen Schlafzimmer. Sie warf die weiße Steppdecke herunter, und Ivy legte Niel auf die Laken. Mrs. Forrester war besorgt, aber nicht verängstigt.

»Mary, bringst du den Brandy von der Anrichte. George, ruf Dr. Dennison an, er soll sofort herkommen. Ihr anderen Jungs geht auf die Veranda und wartet dort in Ruhe. Es sind zu viele von euch hier.« Sie kniete neben dem Bett und schüttete Niel mit einem Teelöffel Brandy zwischen die weißen Lippen. Die kleinen Jungen zogen sich zurück, nur Ivy Peters blieb im hinteren Salon, direkt vor der Schlafzimmertür, stehen, die Arme vor der Brust verschränkt, und betrachtete seine Umgebung mit kühnen, nicht blinzelnden Augen.

Mrs. Forrester warf ihm einen Blick über ihre Schulter zu. »Würden Sie bitte auf der Veranda warten? Sie sind älter als die anderen, und wenn ich etwas brauche, kann ich mich an Sie wenden.«

Ivy verfluchte sich selbst, aber er musste gehen. Ihre gebieterische Höflichkeit hatte etwas Endgültiges an sich – »hochmächtig«, wie er es nannte. Er hatte vorgehabt, sich in den größten Ledersessel zu setzen, die Beine übereinanderzuschlagen und es sich gemütlich zu machen, aber er fand sich auf der Veranda wieder, vertrieben von dieser sanft modulierten Stimme; so wirkungsvoll, als hätte ihn der härteste Kerl der Stadt hinausgeworfen.

Niel öffnete die Augen und schaute sich verwundert in dem großen, halb verdunkelten Raum um, der mit schweren, altmodischen Nussbaummöbeln ausgestattet war. Er lag auf einem weißen Bett mit gerüschten Kissenbezügen, und Mrs. Forrester kniete neben ihm und benetzte seine Stirn mit Kölnischwasser. Mary stand hinter ihr mit einer Schüssel Wasser.

»Aua, mein Arm!«, murmelte er, und der Schweiß brach ihm ins Gesicht.

»Ja, Liebes, ich fürchte, er ist gebrochen. Nicht bewegen. Dr. Dennison wird in ein paar Minuten hier sein. Es tut doch nicht sehr weh, oder?«

»Nein, Ma’am«, sagte er mit schwacher Stimme. Er hatte zwar Schmerzen, aber er fühlte sich schwach und zufrieden. Das Zimmer war kühl und düster und ruhig. In seinem Haus war alles schrecklich, wenn man krank war … Was für weiche Finger Mrs. Forrester hatte, und was für eine reizende Dame sie war. In der Spitzenrüsche ihres Kleides sah er ihren weißen Hals, der sich schnell hob und senkte. Plötzlich stand sie auf, um ihre glitzernden Ringe abzunehmen – sie hatte vorher nicht daran gedacht –, schüttelte sie mit einer schnellen Bewegung, als würde sie ihre Hände waschen, von den Fingern, und ließ sie in Marys breite Handfläche fallen.

Der kleine Junge dachte daran, dass er wahrscheinlich nie wieder an einem so schönen Ort sein würde. Die Fenster gingen fast bis zur Fußleiste, wie Türen, und die geschlossenen grünen Fensterläden ließen Sonnenstrahlen herein, die auf dem polierten Fußboden und den silbernen Dingen auf der Kommode funkelten. Die schweren Vorhänge waren mit dicken Kordeln zurückgeschlungen. Der Waschtisch mit der Marmorplatte war so groß wie eine Anrichte. Die massiven Nussbaummöbel waren mit Intarsien aus hellen Hölzern verziert. Niel hatte eine Laubsäge, und diese Intarsien interessierten ihn.

»So, jetzt sieht er besser aus, nicht wahr, Mary?« Mrs. Forrester fuhr mit den Fingern durch sein schwarzes Haar und küsste ihn sanft auf die Stirn. Oh, wie süß sie duftete!

»Die Räder auf der Brücke; es ist Doktor Dennison. Geh und führe ihn herein, Mary.«

Dr. Dennison richtete Niels Arm und brachte ihn in seinem Wagen nach Hause. Sein Zuhause war kein angenehmer Ort: ein brüchiges Eierschalenhaus am Rande der Prärie, wo Menschen ohne Bedeutung lebten. Abgesehen davon, dass er Richter Pommeroys Neffe war, wäre Niel einer der Jungen gewesen, denen Mrs. Forrester im Vorbeigehen nur freundlich zugenickt hätte. Sein Vater war Witwer. Eine arme Verwandte, eine alte Jungfer aus Kentucky, führte den Haushalt für sie, und Niel hielt sie für die schlechteste Haushälterin der Welt. Ihr Haus war gewöhnlich voller Wäsche in verschiedenen Stadien der Unvollkommenheit – Wannen mit durchnässten Laken standen herum – und die Betten wurden bis zu irgendeiner Stunde am Nachmittag »gelüftet«, wenn Cousine Sadie zufällig daran dachte, sie zu beziehen. Nach dem Frühstück setzte sie sich gern hin und las Mordprozesse oder las in einem abgegriffenen Exemplar von »St. Elmo«. Sadie war ein gutmütiges Ding und rannte immer los, um einem Nachbarn zu helfen, aber Niel hasste es, wenn jemand zu ihnen kam. Sein Vater war nur selten zu Hause, sondern verbrachte die ganze Zeit in seinem Büro. Er führte die Bücher des Bezirks und vergab Kredite an Farmer.

Nachdem er sein eigenes Vermögen verloren hatte, legte er das Geld anderer Leute für sie an. Er war ein sanfter, angenehmer Mann, jung, gut aussehend, mit netten Manieren, aber Niel spürte, dass seine Familie einen Hauch von Versagen und Niederlage umgab. Er klammerte sich an seinen Onkel mütterlicherseits, Richter Pommeroy, weißbärtig und korpulent, der der Anwalt von Captain Forrester und ein Freund aller großen Männer war, die die Forresters besuchten. Niel war stolz, wie seine Mutter; sie starb, als er fünf Jahre alt war. Sie hatte den Westen gehasst und pflegte ihren Nachbarn zu sagen, dass sie niemals daran denken würde, irgendwo anders als in Fayette County, Kentucky, zu leben; dass sie nur nach Sweet Water gekommen seien, um Investitionen zu tätigen und »die Crown in ein Pfund zu verwandeln«. Mit diesem Satz ist sie noch immer in Erinnerung geblieben, die arme Frau.