Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 1 Kapitel 4

Bei schönem Wetter ging Richter Pommeroy zu Fuß zu den Forresters, aber anlässlich des Abendessens für die Ogdens beauftragte er den Besitzer des Mietstalls, ihn und seinen Neffen in einer der städtischen Kutschen hinüberzufahren – Fahrzeuge, die außer bei Beerdigungen und Hochzeiten selten benutzt wurden. Sie rochen stark nach Stall und enthielten Schoßdecken, die so schwer wie Blei und so glitschig wie geöltes Papier waren. Niel und sein Onkel waren die einzigen Stadtbewohner, die an diesem Abend zu den Forresters gebeten wurden; sie rollten feierlich über den Bach und den Hügel hinauf und erschienen mit Pferdehaaren bedeckt am Anwesen der Forresters.

Captain Forrester empfing sie an der Tür. Seine stattliche Gestalt war in einen Gehrock geknöpft, mit flachem Kragen und schwarzer Schnurkrawatte unter den schweren Falten seines Halses. Er war stets glatt rasiert, bis auf einen herabhängenden, graubraunen Schnurrbart. Die Gesellschaft stand lachend hinter ihm, während Niel den Besen in die Hand nahm und damit begann, die rotbraunen Haare vom Mantel seines Onkels abzustauben. Mrs. Forrester wiederum bürstete Niel, und nahm ihn dann mit in den Salon, wo sie ihn Mrs. Ogden und ihrer Tochter vorstellte.

Die Tochter war ein recht hübsches Mädchen, fand Niel, in einem blassrosa Abendkleid, das ihre glatten Arme und ihren kurzen, gewellten Hals freiließ. Ihre Augen waren, wie Mrs. Forrester gesagt hatte, porzellanblau, eher hervortretend und ausdruckslos. Ihr aschgoldener Haarschopf war mit silbernen Bändern um den Kopf gebunden. Trotz ihres frischen, rosenähnlichen Teints war ihr Gesicht nicht gänzlich ansprechend. Zwei unzufriedene Linien reichten von den Ecken ihrer kurzen Nase bis zu den Mundwinkeln. Wenn sie auch nur ein wenig unmutig war, verschärften sich diese Linien, zogen ihre Nase zurück und gaben ihr einen misstrauischen, blessierten Ausdruck. Niel setzte sich neben sie und tat sein Bestes, aber es fiel ihm schwer, mit ihr zu reden. Sie wirkte nervös und abgelenkt, warf immer wieder einen Blick über ihre Schulter und knüllte ihr Taschentuch in den Händen zusammen. Ihre Gedanken waren eindeutig woanders. Nach einigen Augenblicken wandte er sich an die Mutter, deren Interesse leichter zu wecken war.

Mrs. Ogden war fast unverzeihlich hässlich. Sie hatte ein birnenförmiges Gesicht, und über ihrer hohen Stirn lag eine Reihe flacher, trockener Locken. Ihre bläulich-braune Haut hatte fast die Farbe ihres violetten Abendkleides. Um ihren faltigen Hals glitzerte ein Diamantkollier. Im Gegensatz zu Constance schien sie durch und durch liebenswürdig zu sein, aber während sie sprach, neigte sie den Kopf und »benutzte« ihre Augen, indem sie sich jener schelmischen Blicke bediente, von denen er angenommen hatte, dass nur hübsche Frauen sie taten. Wahrscheinlich war sie lange Zeit von Leuten umgeben gewesen, für die sie eine wichtige Persönlichkeit war, und hatte sich die Manieren einer verwöhnten Geliebten angeeignet. Niel hielt sie anfangs für ziemlich albern, aber schon nach wenigen Augenblicken hatte er sich an ihre Eigenheiten gewöhnt und begann sie zu mögen. Er lachte herzhaft und vergaß die Enttäuschung über seinen Misserfolg mit der Tochter.

Mr. Ogden, ein kleiner, wettergegerbter Mann von fünfzig Jahren, mit einem schielenden Auge, einem steifen Kaiserschnitt und einem gezwirbelten Schnurrbart, war merklich ruhiger und weniger ausladend als bei früheren Begegnungen mit Niel. Er schien zu erwarten, dass seine Frau das Reden übernehmen würde. Wenn Mrs. Forrester ihn ansprach oder an ihm vorbeiging, zwinkerte sein gutes Auge und folgte ihr, während das schiefe Auge, unverändert blieb und sich zu nichts verpflichtete.

Plötzlich wurden alle lebhafter: die Luft wurde wärmer, und das Lampenlicht schien heller zu werden, als ein viertes Mitglied der Denver-Gruppe mit einem glitzernden Tablett voller Cocktails, die er zubereitet hatte, aus dem Speisesaal hereinkam.

Frank Ellinger war ein Junggeselle um die vierzig, knapp 1,90m groß, mit langen, geraden Beinen, schmalen Schultern und einer Figur, die es noch immer erlaubte, seine weiße Weste faltenfrei unter dem auffallend gut geschnittenen Dinnerjacket zuzuknöpfen. Sein schwarzes Haar, grob und kraus wie die Füllung einer Matratze, war um die Ohren herum grau und sein blühendes Gesicht zeigte kleine violette Äderchen um die Hakennase herum – eine Nase wie der Bug eines Schiffes, mit langen Nasenlöchern. Sein Kinn war tief gespalten, seine dicken, geschwungenen Lippen schienen sehr muskulös und unter seiner Kontrolle zu sein und gaben ihm, zusammen mit seinen starken, weißen, unregelmäßigen und gebogenen Zähnen, das Aussehen eines Mannes, der eine Eisenstange mit einem Kieferschnappen in zwei Teile beißen könnte. Seine ganze Gestalt wirkte unter der Kleidung sehr lebendig, mit einer rastlosen, muskulösen Energie, die etwas von der Grausamkeit wilder Tiere an sich hatte. Niel interessierte sich sehr für diesen Mann, den Helden vieler zweideutiger Geschichten. Er wusste nicht, ob er ihn mochte oder nicht. Er wusste nichts Schlechtes über ihn, aber er spürte etwas Böses.

Die Cocktails waren das Signal für ein allgemeines Gespräch, die Gesellschaft versammelte sich in einer Gruppe. Selbst Miss Constance schien weniger unzufrieden zu sein. Ellinger trank seinen Cocktail im Stehen neben ihrem Stuhl und bot ihr die Kirsche in seinem Glas an. Es waren altmodische Whiskey-Cocktails. Niemand trank damals Martinis; Gin galt als Trostpflaster für Seeleute und trunksüchtige Putzfrauen.

»Sehr gut, Frank, sehr gut«, verkündete Captain Forrester und zog ein frisches, nach Kölnischwasser duftendes Taschentuch hervor, um sich den Schnurrbart abzuwischen. »Sind Zugaben angesagt?« Der Captain schnaufte leicht, als er sprach. Seine Augen, die seit seiner Verletzung immer etwas trübe und blutunterlaufen waren, blinzelten seine Freunde unter seinen schweren Lidern an.

»Noch eine Runde für alle, Captain.« Ellinger holte von der Anrichte einen großen Shaker und füllte alle Gläser, außer das von Miss Ogden, nach. Bei ihr schüttelte er den Finger und bot ihr die kleine Schale mit Maraschino-Kirschen an.

»Nein, die will ich nicht. Ich möchte die in Ihrem Glas«, sagte sie mit einem schmollenden Lächeln. »Ich möchte, dass sie nach etwas schmeckt!«

»Constance!«, sagte ihre Mutter rügend und rollte mit den Augen zu Mrs. Forrester, als wolle sie den Charme dieser Unschuld mit ihr teilen.

»Niel«, lachte Mrs. Forrester, »willst du dem Kind nicht auch deine Kirsche geben?«

Niel durchquerte sofort den Raum und reichte ihr die Kirsche auf dem Boden seines Glases. Sie nahm sie mit Daumen und Zeigefinger, und ließ sie in ihr eigenes Glas fallen, wo sie sie, wie er schnell feststellte, zurückgelassen hatte, als sie zum Essen gingen. Ein widerspenstiges Stück rosa Fleisch entschied er, und gewiss eine Närrin gegenüber einem Mann, der alt genug war, um ihr Vater zu sein. Er seufzte, als er sah, dass er am Tisch neben ihr saß.

Captain Forrester saß immer noch souverän am Kopfende seines Tisches, die Serviette unter das Kinn geklemmt und die Arbeit des Tranchierens gut im Griff. Niemand konnte die Knochen einer Entenbrust oder eines zwanzig Pfund schweren Truthahns geschickter entblößen. »Welchen Teil des Truthahns bevorzugen Sie, Mrs. Ogden?« Wenn man eine Vorliebe hatte, wurde sie befriedigt, mit all der Füllung und Soße, die dazu gehörte, und dem Gemüse, das passend platziert war. Wenn ein Teller die Hände von Captain Forrester verließ, war es ein Abendessen; der Empfänger war bedient, und zwar gut bedient. Er bediente Mrs. Forrester als letzte der Damen, aber vor den Herren, und auch zu ihr sagte er: »Mrs. Forrester, welchen Teil des Truthahns soll ich Ihnen heute Abend geben?« Er war ein Mann, der weder seine Formeln noch seine Manieren änderte. Er war ebenso wenig beweglich wie seine Miene. Niel und Richter Pommeroy hatten oft bemerkt, wie sehr Captain Forrester den Bildern von Grover Cleveland ähnelte. Seine plumpe Würde verdeckte eine tiefen Charakter und ein Gewissen, mit dem man nie jongliert hatte. Seine Ruhe war wie die eines Berges. Wenn er seine fleischige, dickfingrige Hand auf ein rasendes Pferd, eine hysterische Frau oder einen irischen Arbeiter legte, der nach Blut lechzte, brachte er ihnen Frieden; etwas, dem sie nicht widerstehen konnten. Das war das Geheimnis seines Umgangs mit den Menschen gewesen. Seine Vernunft verlangte nichts, beanspruchte nichts; sie war so einfach, dass sie eine Stille über verwirrte Kreaturen brachte. Früher, als er in den Black Hills Gleise baute, gab es manchmal Ärger im Lager, wenn er abwesend war und bei Mrs. Forrester in Colorado Springs wohnte. Er legte das Telegramm, das einen Aufstand ankündigte, beiseite und sagte zu seiner Frau: »Maidy, ich muss zu den Männern gehen.« Und das war alles, was er tat – er ging zu ihnen.

Während der Captain sich auf seine Pflichten als Gastgeber konzentrierte, sprach er nur wenig, und Richter Pommeroy und Ellinger unterhielten sich angeregt mit amüsanten Geschichten. Niel, der Ellinger gegenüber saß, beobachtete ihn aufmerksam. Er konnte sich immer noch nicht entscheiden, ob er ihn mochte oder nicht. In Denver war Frank als ein Prinz der guten Kameraden bekannt; taktvoll, großzügig, einfallsreich, wenn auch dazu neigend, die Segel nach dem Wind zu richten; ein Mann, der sich gut gelaunt dem Unvermeidlichen oder dem fast Unvermeidlichen beugte. Als er jünger war, war er notorisch »wild« gewesen, aber das wurde ihm nicht zum Vorwurf gemacht, nicht einmal von Müttern mit heiratsfähigen Töchtern, wie Mrs. Ogden. Damals waren die Moralvorstellungen noch anders. Niel hatte gehört, wie sein Onkel von Ellingers jugendlicher Verliebtheit in eine Frau namens Nell Emerald erzählte, eine hübsche und recht ungewöhnliche Frau, die ein von der Polizei in Denver ordnungsgemäß genehmigtes Haus führte. Nell Emerald hatte einem alten Clubmitglied erzählt, dass obwohl sie hinter dem neuen Trabrennpferd des jungen Ellinger her war, sie »keinen Respekt vor einem Mann hatte, der am helllichten Tag mit einer Prostituierten unterwegs war«. Diese Geschichte und ein Dutzend ähnlicher Geschichten wurden oft über Ellinger erzählt, und die Frauen lachten darüber ebenso herzlich wie die Männer. Während der ganzen Zeit, in der er sich eine skandalöse Chronik zulegte, kümmerte sich der junge Ellinger hingebungsvoll um seine kranke Mutter, und er wurde von Fremden als furchtbar flotter junger Mann und Mustersohn beschrieben. Diese Kombination traf den Geschmack der Zeit. Niemand dachte etwas Schlechtes über ihn. Jetzt, da seine Mutter tot war, wohnte er im Brown Palace Hotel, obwohl er immer noch ihr Haus in Colorado Springs besaß.

Als der Braten in vollem Gange war, schenkte Tom, sehr formell in weißer Weste und hohem Kragen, den Champagner ein. Captain Forrester hob sein Glas, den zerbrechlichen Stiel zwischen den dicken Fingern, und sagte mit einem Blick in die Runde zu seinen Gästen und zu Mrs. Forrester:

»Glückliche Tage!«

Es war der Trinkspruch, den er immer beim Abendessen aussprach. Die Beschwörung, die er mit Sicherheit aussprach, wenn er mit einem alten Freund ein Glas Whiskey trank. Wer auch immer ihn einmal gehört hatte, wollte ihn wieder hören. Niemand sonst konnte diese beiden Worte so feierlich und höflich aussprechen wie er. Es schien ein ehrwürdiger Moment zu sein, schien an die Tür des Schicksals zu klopfen, hinter der alle Tage, ob glücklich oder nicht, verborgen waren. Niel trank seinen Wein mit einem wohligen Schauer und dachte, dass nichts anderes das Leben so unsicher, die Zukunft so rätselhaft und unergründlich erscheinen ließ, wie dieser kurze Trinkspruch, gesprochen von diesem wuchtigen Mann: »Glückliche Tage!«

Mrs. Ogden wandte sich mit ihrem schmachtenden Lächeln an den Gastgeber: »Captain Forrester, ich möchte, dass Sie Constance sagen« – (Sie war eine Frau aus Ost-Virginia, und was sie wirklich sagte, war: »Cap’n Forrester, ich möchte, dass Sie es ihr sagen, usw.« Ihre Vokale schienen genauso zu rollen wie ihre Augen.) – »Ich möchte, dass Sie Constance erzählen, wie Sie dieses schöne Fleckchen Erde gefunden haben, vor langer Zeit, zu Zeiten der Indianer.«

Der Captain blickte über den Tisch zwischen den Kerzen zu Mrs. Forrester hinunter, als wolle er um Rat fragen. Sie lächelte und nickte, und ihre schönen Ohrringe schwangen neben ihren blassen Wangen. Sie trug heute Abend ihre Diamanten und ein schwarzes Samtgewand. Ihr Mann hatte archaische Vorstellungen von Juwelen; ein Mann kaufte sie für seine Frau als Anerkennung für Dinge, die er nicht anständig aussprechen konnte. Sie müssen teuer sein; sie müssen zeigen, dass er in der Lage war, sie zu kaufen, und dass sie würdig war, sie zu tragen.

Mit ihrer Zustimmung begann der Captain seine Erzählung: eine kurze Schilderung, wie er als junger Mann, nachdem er im Bürgerkrieg gedient hatte, in den Westen kam und eine Stelle als Fahrer für eine Frachtgesellschaft annahm, die Vorräte über die Prärie von Nebraska City nach Cherry Creek, wie Denver damals hieß, transportierte. Nach der Einschiffung in das sechshundert Meilen breite Gräsermeer, verloren die Frachter die Tage der Woche und des Monats aus den Augen. Ein Tag war wie der andere, und alle waren herrlich: gute Jagd, viele Antilopen und Büffel, grenzenloser sonniger Himmel, grenzenlose Ebenen mit wogendem Gras, lange Süßwasserlagunen, gelb mit Lagunenblumen, in denen die Bisons auf ihren regelmäßigen Wanderungen Halt machten, um zu trinken, zu baden und sich zu suhlen.«Ein ideales Leben für einen jungen Mann«, sagte der Captain.

Als er einmal wegen einer Überschwemmung vom Weg abkam, ritt er auf seinem Pferd nach Süden, um die Gegend zu erkunden, und fand ein Indianerlager in der Nähe des Flusses, genau auf dem Hügel, auf dem jetzt sein Haus stand. Er war, wie er sagte, »sehr angetan von dem Ort« und beschloss, eines Tages dort ein Haus zu bauen. Er fällte einen jungen Weidenbaum und steckte den Pfahl in den Boden, um die Stelle zu markieren, an der er bauen wollte. Er ging weg und kehrte viele Jahre lang nicht zurück; er half beim Bau der ersten Eisenbahnlinie durch die Prärie.

»Es gab Menschen, die von mir abhängig waren«, sagte er. »Ich hatte mit Krankheit und Verantwortung zu kämpfen. Aber in all diesen Jahren verging wohl kaum ein Tag, an dem ich nicht an den Sweet Water und diesen Hügel dachte. Als ich als junger Mann hierherkam, hatte ich alles so geplant, wie es heute ist: wo ich meinen Brunnen graben und wo ich meinen Hain und meinen Obstgarten anlegen würde. Ich hatte vor, ein Haus zu bauen, in das meine Freunde kommen konnten, mit einer Frau wie Mrs. Forrester, um es gefällig zu machen. Ich habe mir immer versprochen, dass ich es eines Tages schaffen würde.« Diesen Teil der Geschichte erzählte der Captain nicht verlegen, sondern zurückhaltend, wählte seine Worte langsam, knackte abwesend englische Walnüsse mit seinen kräftigen Fingern und häufte einen kleinen Haufen Kerne neben seinem Teller an. Seine Freunde verstanden, dass er sich auf seine erste Ehe bezog; auf die arme, kranke Frau, die nie glücklich gewesen war und die ihn immer auf Trab gehalten hatte.

»Als es am entmutigendsten aussah«, fuhr er fort, »kam ich hierher zurück und kaufte den Ort von der Eisenbahngesellschaft. Sie nahmen meinen Schuldschein. Ich fand meinen Weidenpfahl. Er hatte Wurzeln geschlagen und war zu einem Baum herangewachsen. Ich pflanzte drei weitere, um die Ecken meines Hauses zu markieren. Zwölf Jahre später kam Mrs. Forrester mit mir hierher, kurz nach unserer Hochzeit, und wir bauten unser Haus.« Captain Forrester schnaufte von Zeit zu Zeit, aber sein klarer Bericht erforderte Aufmerksamkeit. Die Art und Weise, wie er seine schmucklosen Sätze aussprach, verlieh ihnen die Eindringlichkeit von in Stein gemeißelten Inschriften.

Mrs. Forrester nickte ihm von ihrem Ende des Tisches aus zu. »Und jetzt erzähl uns deine Lebensphilosophie – da kommt sie ins Spiel«, lachte sie neckisch.

Der Captain hustete und sah verlegen aus. »Das wollte ich heute Abend eigentlich weglassen. Einige unserer Gäste haben es schon gehört.«

»Nein, nein. Es gehört an das Ende der Geschichte, und wenn einige von uns es schon gehört haben, können wir es noch einmal hören. Fahr fort!«

»Nun, meine Philosophie ist, dass man das, was man sich Tag für Tag ausdenkt und plant, trotz seiner Selbst, auch bekommt. Man wird es mehr oder weniger bekommen. Das heißt, es sei denn, du gehörst zu den Menschen, die in dieser Welt nichts bekommen. Solche Menschen gibt es. Ich habe zu viel in Bergwerken und Baulagern gelebt, um das nicht zu wissen.« Er hielt inne, als ob dieses Kapitel zu dunkel sei, um es zu vertiefen; es müsse seinen Platz haben, seinen Moment der stillen Anerkennung. »Wenn ihr nicht zu denen gehört, Constance und Niel, dann werdet ihr das erreichen, wovon ihr am meisten träumt.«

»Und warum? Das ist das interessante Teil«, forderte seine Frau ihn auf.

»Weil«, riss er sich aus seiner Abstraktion und blickte in die Runde, »weil eine Sache, von der man so träumt, wie ich es meine, bereits eine vollendete Tatsache ist. Unser ganzer Westen hat sich aus solchen Träumen entwickelt, aus den Träumen der Siedler, der Goldsucher und der Bauunternehmer. Wir träumten von den Eisenbahnen über die Berge, so wie ich von meinem Platz am Sweet Water träumte. All diese Dinge werden für die kommende Generation alltägliche Tatsachen sein, aber für uns …« Captain Forrester endete mit einer Art Grunzen. Etwas Verbotenes überkam seine Stimme, der einsame, trotzige Ton, den man so oft in den Stimmen alter Indianer hört.

Mrs. Ogden hatte der Geschichte mit solcher Sympathie zugehört, dass Niel sie mehr denn je mochte, und selbst die geistesabwesende Constance schien in der Lage zu sein, der Geschichte ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Sie erhoben sich vom Dessert und gingen in den Salon, um die Kartentische aufzustellen. Der Captain spielte Whist so gut wie immer. Als er eine Schachtel seiner besten Zigarren hervorholte, hielt er vor Mrs. Ogden inne und fragte: »Ist Ihnen der Rauch unangenehm, Mrs. Ogden?« Als sie das verneinte, durchquerte er den Raum, wo Constance mit Ellinger sprach, und fragte mit der gleichen ernsten Höflichkeit: »Ist Ihnen der Rauch unangenehm, Constance?« Wäre ein halbes Dutzend Frauen anwesend gewesen, hätte er diese Frage wahrscheinlich jeder einzelnen gestellt, und zwar mit denselben Worten. Es machte ihm nichts aus, eine Phrase zu wiederholen. Wenn ein Ausdruck seinen Zweck erfüllte, sah er keinen Grund, ihn zu ändern.

Mrs. Forrester und Mr. Ogden sollten gegen Mrs. Ogden und den Captain spielen. »Constance«, sagte Mrs. Forrester, als sie sich setzte, »willst du mit Niel spielen? Ich habe gehört, dass er sehr gut ist.«

Miss Ogdens kurze Nase rümpfte sich, die Falten zu beiden Seiten vertieften sich, und sie sah wieder blessiert aus. Niel war sich sicher, dass sie ihn verabscheute. Er ließ sich von ihr nicht unterkriegen.

»Miss Ogden«, sagte er, als er neben seinem Stuhl stand und bedächtig ein Kartenspiel mischte, »mein Onkel und ich sind es gewohnt, zusammen zu spielen, und Sie sind es wahrscheinlich gewohnt, mit Mr. Ellinger zu spielen. Wie wäre es, wenn wir diese Kombination ausprobieren?«

Sie warf ihm einen schnellen, misstrauischen Blick unter ihren gelben Wimpern zu und ließ sich in einen Stuhl fallen, ohne ihm zu antworten. Frank Ellinger kam aus dem Esszimmer, wo er den französischen Brandy des Captains probiert hatte, und nahm den freien Platz gegenüber von Miss Ogden ein. »Sie und ich also, Connie? Na dann!«, rief er und hob das Päckchen ab, das Niel ihm zuschob.

Kurz vor Mitternacht öffnete Tom die Tür und verkündete, dass der Eierpunsch fertig sei. Die Kartenspieler gingen ins Esszimmer, wo die Punschschüssel rauchend auf dem Tisch stand.

»Constance«, sagte Captain Forrester, »singen Sie? Ich würde gerne eines der alten Lieder zum Eierpunsch hören.«

»Tut mir leid, Cap’n Forrester. Ich habe wirklich keine Stimme.«

Niel bemerkte, dass Constance, wann immer sie mit dem Captain sprach, ihre Kehle überstrapazierte, obwohl er nicht im Geringsten taub war. Er brach über ihre Ablehnung hinweg. »Onkel kann ein Lied anstimmen, wenn Sie ihn überreden, Sir.«

Nachdem er seinen silbernen Schnurrbart geglättet und gehustet hatte, stimmte Richter Pommeroy »Auld Lang Syne« an. Die anderen stimmten mit ein, aber sie hatten noch nicht zu Ende gesungen, als ein hohles Rumpeln unten auf der Brücke sie zum Lachen brachte und alle zu den Fenstern rannten, um zu sehen, wie die Bestattungskutsche des Richters den Hügel hinauftuckerte, wobei nur eine der Seitenlaternen brannte. Mrs. Forrester schickte Tom los, um dem Kutscher einen Drink zu bringen. Während Niel und sein Onkel im Flur ihre Mäntel anzogen, kam sie zu ihnen und flüsterte dem Jungen schmeichelnd zu: »Denk daran, dass du morgen um zwei Uhr vorbeikommst? Ich plane eine Fahrt, und ich möchte, dass du Constance für mich unterhältst.«

Niel biss sich auf die Lippe und schaute in die lachenden, überzeugenden Augen von Mrs. Forrester. »Ich werde es für Sie tun, aber das ist der einzige Grund«, sagte er drohend.

»Ich verstehe: für mich! Ich werde es dir gutschreiben.«

Der Richter und sein Neffe rollten auf schaukligen Federn davon. Die Ogdens zogen sich in ihre Zimmer im Obergeschoss zurück. Mrs. Forrester half dem Captain, sich seines Gehrockes zu entledigen, und legte ihn für ihn weg. Seit seiner Verletzung musste er nachts auf Kissen gestützt werden, und er schlief in einem schmalen Eisenbett in der Nische, die früher das Ankleidezimmer seiner Frau gewesen war. Während er sich auszog, atmete er schwer und seufzte, als sei er sehr müde. Er fummelte an seinen Manschettenknöpfen herum, pustete dann auf seine Finger und versuchte es erneut. Seine Frau kam ihm zu Hilfe und knöpfte schnell alles auf. Er dankte ihr nicht mit Worten, sondern fügte sich dankbar.

Als das Eisenbett knarrte, als es seine schwere Gestalt aufnahm, rief sie aus dem großen Schlafzimmer: »Gute Nacht, Mr. Forrester«, und zog die schweren Vorhänge zu, die den Alkoven abschlossen. Sie nahm ihre Ringe und Ohrringe ab und begann, ihr schwarzes Samtmieder zu öffnen, als sie beim Klirren eines Glases von draußen kurz innehielt. Sie hakte die Schulter ihres Kleides wieder ein und ging ins Esszimmer, das jetzt schwach vom Kohlefeuer im hinteren Salon erleuchtet wurde. Frank Ellinger stand an der Anrichte und nahm einen Schlummertrunk zu sich. Der französische Brandy von Forrester war alt und schwer wie ein Likör.

»Seien Sie vorsichtig«, murmelte sie, als sie sich ihm näherte, »ich habe den Eindruck, dass sich jemand auf der beiliegend Treppe befindet. In der Tür ist ein breiter Spalt. Ah, aber Kätzchen haben heutzutage Krallen! Schenken Sie mir nur ein wenig ein. Ich danke Ihnen. Ich nehme meinen am Feuer.«

Er folgte ihr ins Nebenzimmer, wo sie am Rost stand und ihn im Schein der blassblauen Flammen, die über die frischen Kohlen liefen, die aufgelegt wurden um das Feuer zu versorgen, ansah.

»Du hast eine Menge Brandy getrunken, Frank«, sagte sie und betrachtete sein errötetes, herrisches Gesicht.

»Nicht zu viel. Ich werde ihn brauchen … heute Nacht«, antwortete er bedeutungsvoll.

Nervös strich sie eine Haarsträhne zurück, die ein wenig heruntergefallen war. »Es ist nicht »heute Nacht«. Es ist Morgen. Geh ins Bett und schlaf so lange du willst. Pass auf dich auf, ich habe Seidenstrümpfe auf der Treppe gehört. Gute Nacht.« Sie legte ihre Hand auf den Ärmel seines Mantels; die weißen Finger klebten an dem schwarzen Stoff wie Papierstücke an magnetisiertem Eisen. Ihre Berührung, so sanft sie auch war, ging durch den Mann hindurch; durch jeden Meter und Zentimeter. Seine breiten Schultern hoben sich bei einem tiefen Atemzug. Er blickte auf sie herab.

Ihr Blick fiel zu Boden. »Gute Nacht«, sagte sie leise. Als sie sich schnell abwandte, verfing sich die Schleppe ihres Samtkleides am Bein seiner Stoffhose und schleifte mit einer Reibung, die knisterte und Funken sprühte. Beide erstarrten. Sie standen einen Moment lang da und sahen sich an, bevor sie tatsächlich durch die Tür schlüpfte. Ellinger blieb am Kamin stehen, die Arme fest vor der Brust verschränkt, die geschwungenen Lippen zusammengepresst und stirnrunzelnd ins Feuer blickend.