Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 1 Kapitel 5

Am nächsten Nachmittag fuhr Niel den Hügel hinauf, gerade als der Kutter mit den beiden schwarzen Ponys in der Einfahrt rumpelte und vor der Haustür hielt. Mrs. Forrester trat auf die Veranda, gekleidet für eine Schlittenfahrt. Ellinger folgte ihr in einem langen, pelzgefütterten Mantel, der vorne mit einem glänzenden Astrachan-Kragen versehen war. Er sah noch kraftvoller und energiegeladener aus als gestern Abend. Sein farbenprächtiges, attraktives Gesicht strahlte eine gute Meinung von sich und der Welt aus.

Mrs. Forrester rief Niel fröhlich zu. »Wir gehen hinunter zum Fluss, um Zedernzweige für Weihnachten zu schneiden. Kannst du Constance Gesellschaft leisten? Sie scheint ein wenig enttäuscht zu sein, dass wir sie zurücklassen, aber wir können den großen Schlitten nicht nehmen, die Stange ist kaputt. Sei nett zu ihr, du bist ein guter Junge!« Sie drückte seine Hand, schenkte ihm ein bedeutungsvolles, vertrauliches Lächeln und stieg in den Schlitten. Ellinger sprang neben sie, und sie glitten mit fröhlichem Glöckchengeläut den Hügel hinunter.

Niel fand Miss Ogden im hinteren Salon, wo sie am Feuer Solitär spielte. Sie war eindeutig schlecht gelaunt.

»Kommen Sie herein, Mr. Herbert. Ich glaube, sie hätten uns mitnehmen können, meinen Sie nicht? Ich möchte mir den Fluss selbst ansehen. Ich hasse es, im Haus eingesperrt zu sein!«

»Dann lasst uns ausgehen. Wollen Sie nicht die Stadt sehen?«

Constance schien ihn nicht zu hören. Sie rümpfte und entrümpfte ihre kurze Nase, und die unruhigen Falten um ihren Mund zuckten. »Was hindert uns daran, in der Scheune einen Schlitten zu besorgen und zum Sweet Water hinunterzufahren? Ich nehme nicht an, dass der Fluss Privatbesitz ist?« Sie erwiderte ein nervöses und verärgertes Lachen und sah Niel hoffnungsvoll an.

»Um diese Zeit können wir nichts mehr bekommen. Die Gespanne sind alle weg«, sagte er mit fester Stimme.

Constance warf ihm einen misstrauischen Blick zu, dann setzte sie sich an den Kartentisch, beugte sich über ihn und zog die Schultern zusammen. Ihr flauschiges gelbes Haar war wie ein Schal um ihren Kopf gewickelt und wurde von schmalen Bändern aus schwarzem Samt zusammengehalten.

Die Ponys hatten den zweiten Bach überquert und trabten die Hauptstraße hinunter in Richtung Fluss. Mrs. Forrester drückte ihre Gefühle in einem verschmitzten Lachen aus. »Läuft sie uns etwa hinterher? Wie kommt sie auf die Idee, dass sie mitkommen würde? Was für eine Erleichterung, wegzukommen!« Sie hob ihr Kinn und schnupperte an der Luft. Der Tag war grau, ohne Sonne, und die Luft war still und trocken – eine warme Kälte. »Armer Mr. Ogden«, fuhr sie fort, »wie viel lebendiger er ohne seine Damen ist! Sie bringen ihn fast zum Erlöschen. Bist du denn nicht froh, dass du nie geheiratet hast?«

»Ich bin in der Tat froh, dass ich nie eine einfache Frau geheiratet habe. Wozu tut ein Mann das überhaupt? Sie hatte kein Geld, und er hatte es immer, oder war auf dem Weg dorthin.«

»Naja, sie fahren morgen ab. Und Connie! Du hast sie in einen Zustand des Schwachsinns versetzt, wirklich! Was muss Niel für einen Nachmittag haben!« Sie lachte, als ob der Gedanke an seine missliche Lage sie erfreute.

»Wer ist dieser Junge eigentlich?« Ellinger bat sie, für einen Moment die Zügel in die Hand zu nehmen, während er eine Zigarre aus seiner Tasche zog. »Er ist ein bisschen steif. Macht er sich nützlich?«

»Oh, er ist ein netter Junge, der hier gestrandet ist wie der Rest von uns. Ich werde ihn lehren, nützlich zu sein. Er ist Mr. Forrester sehr zugetan. Attraktiv, findest du nicht auch?«

»Durchwachsen.« Sie bogen in eine Nebenstraße ein, die sich entlang des Flusses schlängelte. Ellinger hielt die Ponys ein wenig ein und klappte seinen hohen Astrachan-Kragen herunter. »Lass dich mal ansehen, Marian.«

Mrs. Forrester hielt sich ihren Muff vor das Gesicht, um die fliegenden Schneepartikel aufzufangen, die die Ponys aufgewirbelt hatten. Von dahinter blickte sie ihn von der Seite an. »Und?«, sagte sie neckisch.

Er legte seinen Arm um ihren und ließ sich tief im Schlitten nieder. »Du solltest mich besser ansehen als so. Es ist schon verdammt lange her, dass ich dich gesehen habe.«

»Vielleicht ist es zu lange her«, murmelte sie. Das spöttische Funkeln in ihren Augen wurde unter dem langen Druck seines Arms merklich schwächer. »Ja, es ist lange her«, gab sie leichthin zu.

»Du hast den Brief nicht beantwortet, den ich dir am elften geschrieben habe.«

»Habe ich nicht? Nun, jedenfalls habe ich dein Telegramm beantwortet.« Sie zog den Kopf weg, als sein Gesicht näher kam. »Du musst wirklich auf die Ponys aufpassen, mein Lieber, sonst werfen sie uns noch in den Schnee.«

»Das ist mir egal. Ich wünschte, sie würden es tun!«, sagte er zwischen den Zähnen. »Warum hast du nicht auf meinen Brief geantwortet?«

»Ach, ich erinnere mich nicht! Du schreibst nicht so oft.«

»Das ist keine Genugtuung. Du erlaubst mir nicht, dir Liebesbriefe zu schreiben. Du sagst, es sei zu riskant.«

»Das ist es auch, und es ist töricht. Aber jetzt brauchst du nicht mehr so vorsichtig zu sein. Nicht zu vorsichtig!«, lachte sie leise. »Wenn ich einen ganzen Winter lang allein auf dem Lande bin und älter werde, möchte ich …« sie legte ihre Hand auf seine, »an angenehmere Dinge erinnert werden.«

Ellinger zog seinen Handschuh mit den Zähnen aus. Seine Augen, die über die kurvenreiche Straße und die niedrigen, schneebedeckten Klippen schweiften, hatten etwas wildes an sich.

»Sei vorsichtig, Frank. Meine Ringe! Du tust mir weh!«

»Warum hast du sie dann nicht abgenommen? Das hast du doch immer getan. Sind das deine Zedern, sollen wir hier anhalten?«

»Nein, nicht hier.« Sie sprach sehr leise. »Die besten sind weiter unten, in einer tiefen Schlucht, die sich in die Hügel hineinwindet.«

Ellinger blickte auf ihren abgewandten Kopf, und seine schweren Lippen zuckten an einer Ecke zu einem Lächeln. Die Qualität ihrer Stimme hatte sich verändert, und er kannte die Veränderung. Sie fuhren die Kurven der gewundenen Straße entlang, ohne ein Wort zu sagen. Mrs. Forrester saß mit nach vorn gebeugtem Kopf, das Gesicht halb in ihrem Muff verborgen. Schließlich forderte sie ihn auf, anzuhalten. Rechts von der Straße sah er ein Gebüsch. Dahinter schlängelte sich ein trockener Wasserlauf in die Steilküste. Die Wipfel der dunklen, stillen Zedern, die von der Straße aus gerade noch zu sehen waren, deuteten seine Windungen an.

»Bleib ruhig sitzen«, sagte er, »während ich die Pferde abspanne.«

Als die blauen Schatten der nahenden Dämmerung über den Schnee zu fallen begannen, entdeckte einer der Blum-Jungs, der auf der Suche nach Kaninchen leise durch den Wald schlich, den leeren Kutter im Gebüsch und daneben die beiden Ponys, die ungeduldig aufstampften, wo sie angebunden waren. Adolph schlich sich ins Dickicht und legte sich hinter einen umgestürzten Baumstamm, um zu sehen, was passieren würde. Außer dem Wetter passierte ihm nicht viel.

Plötzlich hörte er leise Stimmen, die aus der Schlucht näher kamen. Der große Fremde, der bei den Forresters zu Besuch war, kam heraus und trug das Büffelgewand an einem Arm; Mrs. Forrester selbst hielt sich am anderen fest. Sie gingen langsam, ganz in das vertieft, was sie sich gegenseitig sagten. Als sie zum Schlitten kamen, breitete der Mann das Gewand auf dem Sitz aus und legte seine Hände unter die Arme von Mrs. Forrester, um sie hineinzuheben. Aber er hob sie nicht hoch; er stand eine ganze Weile da und drückte sie an seine Brust, das Gesicht in seinem schwarzen Mantel verborgen.

»Was ist mit den verdammten Zedernzweigen?«, fragte er, nachdem er sie hineingehoben und zugedeckt hatte. »Soll ich zurückgehen und welche schneiden?«

»Das ist nicht wichtig«, murmelte sie.

Er griff unter den Sitz, um ein Beil zu holen, und ging zurück zur Schlucht. Mrs. Forrester saß mit geschlossenen Augen da, die Wange auf den Muff gebettet, ein schwaches, sanftes Lächeln auf den Lippen. Die Luft war still und blau; der Blum-Junge konnte sie fast atmen hören. Als die Schläge des Beils aus der Schlucht ertönten, konnte er sehen, wie ihre Augenlider flatterten … Leise Schauer durchliefen ihren Körper.

Der Mann kam zurück und warf die Tannenzweige in den Schlitten. Als er neben ihr einstieg, ließ sie ihre Hand durch seinen Arm gleiten und schmiegte sich sanft an ihn. »Fahr langsam«, murmelte sie, als ob sie im Schlaf reden würde. »Es macht nichts, wenn wir zu spät zum Abendessen kommen. Nichts ist wichtig.« Die Ponys trabten los.

Der blasse Blum-Junge erhob sich hinter seinem Baumstamm und folgte den Spuren die Schlucht hinauf. Als der orangefarbene Mond über den Klippen aufging, saß er immer noch unter den Zedern, sein Gewehr auf dem Knie. Während Mrs. Forrester dort im Schlitten mit geschlossenen Augen gewartet hatte, sich so sicher fühlend, hätte er sie fast mit der Hand berühren können. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen, wenn ihre spöttischen Augen und ihre lebhafte Art nicht zwischen ihr und der ganzen Welt standen. Wenn es nun Thad Grimes gewesen wäre, der hinter dem Baumstamm lag, oder Ivy Peters?

Aber bei Adolph Blum waren ihre Geheimnisse sicher. Sein Geist war feudal; die Reichen und Glücklichen waren auch die Privilegierten. Diese warmblütigen, schnell atmenden Menschen gingen Risiken ein und folgten Impulsen, die einem Jungen, der das ganze Jahr über nass und wettergegerbt war; der im Schlamm watete, um Welse zu fangen, oder im Sumpf auf eine Wildente wartete, nur schwer verständlich waren. Mrs. Forrester war nie zu hochmütig gewesen, um ihn anzulächeln, wenn er mit seinem Fisch an die Hintertür kam. Sie feilschte nie um den Preis. Sie behandelte ihn wie ein menschliches Wesen. Seine kleinen Plaudereien mit ihr, ihr Nicken und Lächeln, wenn sie auf der Straße an ihm vorbeiging, gehörten zu den angenehmsten Dingen, an die er sich erinnern durfte. Sie kaufte ihm in der Schonzeit Wild ab und verriet ihn nicht.