Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 1 Kapitel 6

In diesem Winter, dem ersten, den Mrs. Forrester in dem Haus auf dem Hügel verbrachte, lernte Niel sie sehr gut kennen. Für die Forresters war dieser Winter eine Art Landenge zwischen zwei Ländereien; bald darauf änderte sich ihr Schicksal. Und für Niel war es ein natürlicher Wendepunkt, denn im Herbst war er neunzehn und im Frühjahr zwanzig Jahre alt – ein sehr großer Unterschied.

Nachdem die Weihnachtsfeierlichkeiten vorüber waren, wurden die Whist-Partien zu einer regelmäßigen Routine. An drei Abenden in der Woche saßen Richter Pommeroy und sein Neffe mit den Forresters zusammen und spielten Karten. Manchmal gingen sie früh hinüber und aßen dort zu Abend. Manchmal blieben sie noch zu einem späten Abendessen, nachdem sie die letzte Runde gespielt hatten. Niel, der mit seinem Junggesellenleben so zufrieden gewesen war und sich vorgenommen hatte, niemals an einem Ort zu leben, der von Frauen beherrscht wurde, fand Gefallen an der Behaglichkeit eines gut geführten Hauses, an den Annehmlichkeiten des Tisches, den weichen Stühlen, dem sanften Licht und den angenehmen menschlichen Stimmen bei den Forresters. In bitteren, windigen Nächten, wenn er in seinem blauen Lieblingssessel vor dem Kamin saß, fragte er sich, wie er es schaffen konnte, sich loszureißen, in die äußere Dunkelheit zu stürzen und den langen, gefrorenen Weg hinunter und die tote Straße der Stadt hinaufzulaufen. Captain Forrester experimentierte in jenem Winter mit Blumenzwiebeln und hatte an der Südseite des Hauses, neben dem hinteren Salon, einen kleinen gläsernen Wintergarten gebaut. Im Januar und Februar war das Haus voller Narzissen und römischer Hyazinthen, und ihr schwerer, frühlingshafter Duft trug zur verlockenden Gemütlichkeit des Kamins bei.

Wo Mrs. Forrester war, war Langeweile unmöglich, glaubte Niel. Der Reiz ihrer Unterhaltung lag nicht so sehr in dem, was sie sagte, obwohl sie oft geistreich und originell war, sondern in der schnellen Anerkennung ihrer Augen, in der Lebendigkeit ihrer Stimme selbst. Man konnte sich mit ihr über die trivialsten Dinge unterhalten und mit einem Hochgefühl nach Hause gehen. Er vermutete, dass das Geheimnis darin lag, dass sie sich einfach für Menschen interessierte, selbst für ganz gewöhnliche Menschen. Wenn Mr. Ogden oder Mr. Dalzell nicht da waren, um ihr ihre besten Geschichten zu erzählen, dann konnte sie sich über Ivy Peters’ rüpelhafte Manieren amüsieren oder über die sanften Komplimente des alten Elliott, wenn er ihr ein Paar Winterschuhe verkaufte. Sie hatte eine faszinierende Gabe der Nachahmung. Wenn sie den dicken Eismann, Thad Grimes an seiner Fleischtheke oder die Blum-Jungs mit ihren toten Kaninchen erwähnte, ließ sie sie durch eine subtile Andeutung ihres Verhaltens individueller und lebendiger erscheinen, als sie es in ihrer eigenen Person waren. Oft karikierte sie die Leute ins Gesicht, und sie waren nicht beleidigt, sondern sehr geschmeichelt. Nichts erfreute einen mehr, als ihr Lachen zu provozieren. Dann hatte man das Gefühl, dass man sich mit ihr verstand. Es war ihre Art zu kommentieren, zuzustimmen und zu würdigen, wenn man etwas Interessantes sagte, und es sagte einem oft viel, was zu direkt und zu schwer in Worte zu fassen war.

Noch lange, lange danach, als Niel nicht wusste, ob Mrs. Forrester lebte oder tot war, kam ihm ihr Bild in den Sinn, mit dem Glanz ihrer dunklen Augen, ihren blassen dreieckigen Wangen mit den langen Ohrringen und ihrem vielfarbigen Lachen. Wenn er trübsinnig und müde von allem war, dachte er immer, wenn er diese lang vermisste Frau wieder lachen hören könnte, könnte er fröhlich sein.

Der große Sturm des Winters kam spät in diesem Jahr, fegte am ersten Märztag über Sweet Water hinweg und schlug drei Tage und Nächte lang auf die Stadt ein. Dreißig Zentimeter Schnee fielen, und der schneidende Wind blies ihn in wirbelnde Verwehungen. Die Forresters waren eingeschneit. Ben Keezer, ihr Mann für alle Arbeiten, unternahm keinen Versuch, eine Straße zu räumen oder gar selbst in die Stadt zu kommen. Am dritten Tag ging Niel zum Postamt, holte den ledernen Postsack des Captains mit einer Ansammlung von Briefen und machte sich auf den Weg über den Bach, wobei er sich bis zur Mitte, manchmal bis zu den Achselhöhlen in das Schneetreiben stürzte. Die Zäune entlang des Weges waren verdeckt, aber er hielt sich zwischen den beiden Pappelreihen auf der Spur. Als er endlich die vordere Veranda erreichte, kam Captain Forrester zur Tür und ließ ihn herein.

»Ich bin froh, dich zu sehen, mein Junge, sehr froh. Es war ein bisschen einsam für uns. Es muss anstrengend gewesen sein rüberzukommen. Ich weiß das sehr zu schätzen. Komm ans Feuer im Wohnzimmer und trockne dich. Wir werden uns in Ruhe unterhalten. Mrs. Forrester ist nach oben gegangen, um sich hinzulegen; sie hat über Kopfschmerzen geklagt.«

Niel stand in seinen Gummistiefeln vor dem Feuer und trocknete seine Hose. Der Captain setzte sich nicht hin, sondern öffnete die Glastür zu seinem kleinen Wintergarten.

»Ich möchte dir etwas Schönes zeigen, Niel. Alle meine Hyazinthen blühen auf einmal, in allen Farben des Regenbogens. Die römischen Hyazinthen, sage ich, sind von Mrs. Forrester. Sie scheinen ihr zu liegen.«

Niel ging zur Tür und betrachtete mit großer Freude die frischen, leuchtenden Blüten. »Ich hatte schon befürchtet, Sie würden sie bei diesem bitteren Wetter verlieren, Captain.«

»Nein, diese Dinger halten eine Menge Kälte aus. Sie haben uns Gesellschaft geleistet.« Er schaute durch das Glas auf das verwehte Gebüsch hinaus. Niel mochte es, wenn er über sein Haus hinausblickte. Das Haus eines Mannes ist seine Burg, schien sein Blick zu sagen. »Ben sagte mir, dass die Kaninchen in die Scheune gekommen sind, um das Heu zu fressen, alles Grüne ist zugedeckt. Ich habe ihn gebeten, ein paar Kohlköpfe für sie auszulegen, damit sie nicht leiden müssen. Mrs. Forrester war jeden Tag auf der Veranda und hat die Schneevögel gefüttert«, fuhr er fort, als würde er mit sich selbst reden.

Die Treppentür öffnete sich, und Mrs. Forrester kam in ihrem japanischen Morgenmantel herunter und sah sehr blass aus. Die dunklen Schatten unter ihren Augen schienen darauf hinzuweisen, dass sie zu wenig geschlafen hatte.

»Oh, es ist Niel! Wie nett von dir. Und du hast die Post mitgebracht. Sind da auch Briefe für mich?«

»Drei. Zwei aus Denver und einer aus Kalifornien.« Ihr Mann gab sie ihr. »Hast du geschlafen, Maidy?«

»Nein, aber ich habe mich ausgeruht. Es ist herrlich oben im Westzimmer, der Wind singt und pfeift um die Dachtraufe. Wenn du mich entschuldigst, ich ziehe mich an und werfe einen Blick in meine Briefe. Stell dich näher ans Feuer, Niel. Bist du sehr nass?« Als sie neben ihm stehen blieb, um seine Kleidung zu betasten, roch er den scharfen Geruch von Spirituosen. War sie krank, fragte er sich, oder war sie nur so gelangweilt, dass sie versucht hatte, sich zu betäuben?

Als sie zurückkam, hatte sie sich angezogen und ihr Haar neu arrangiert.

»Mrs. Forrester«, sagte der Captain in einem bekümmerten Ton, »ich glaube, ich hätte heute Nachmittag gern Tee und Toast, wie deine englischen Freunde, und es wäre gut für deinen Kopf. Wir werden Niel nichts weiteres anbieten.«

»Nun gut. Mary ist mit Zahnschmerzen zu Bett gegangen, aber ich werde den Tee machen. Niel kann den Toast hier am Feuer machen, während du deine Zeitung liest.«

Sie war jetzt munter, band Niel eine von Marys Schürzen um den Hals und setzte ihn mit der Toastgabel hin. Er bemerkte, dass der Captain, während er seine Zeitung las, mit einer gewissen Wachsamkeit auf die Anrichte blickte, und als seine Frau das Tablett mit dem Tee, aber ohne Sherry, brachte, schien er sehr zufrieden zu sein. Er trank drei Tassen und nahm ein zweites Stück Toast.

»Sehen Sie, Mr. Forrester«, sagte sie leichthin, »Niel hat mir den Appetit zurückgebracht. Ich habe heute nichts zu Mittag gegessen«, wandte sie sich an den Jungen, »ich war zu lange eingesperrt. Steht etwas in den Zeitungen?«

Damit meinte sie, ob es Neuigkeiten über die Leute gab, die sie kannten. Der Captain setzte wieder seine Silberrandbrille auf und las vor, was ihre Freunde in Denver, Omaha und Kansas City taten. Mrs. Forrester saß auf einem Hocker am Feuer, aß einen Toast und gab humorvolle Kommentare zu den Themen dieser feierlichen Abschnitte ab; die Verlobung von Miss Erma Salton-Smith, usw.

»Na endlich, Gott sei Dank! Du erinnerst dich an sie, Niel. Sie ist hier gewesen. Ich glaube, du hast mit ihr getanzt.«

»Ich glaube nicht, dass ich das tue. Wie ist sie denn so?«

»Sie ist genauso, wie sie heißt. Erinnerst du dich nicht? Groß, sehr lebhaft, funkelnde Augen, wie die eines alten Seefahrers?«

Niel lachte. »Mögen Sie keine strahlenden Augen, Mrs. Forrester?«

»Nein, ich mag keine anderen!« Sie stimmte so fröhlich in sein Lachen ein, dass der Captain mit einem Ausdruck der Zufriedenheit über seine Zeitung blickte. Er ließ das Journal langsam auf seinen Knien zusammenfallen und beobachtete die beiden neben dem Kamin. Sie schienen ihm etwa gleich alt zu sein. Er hatte die Angewohnheit, sich Mrs. Forrester als sehr, sehr jung vorzustellen.

Sie bemerkte, dass er nicht las. »Soll ich die Lampe anmachen, Mr. Forrester?«

»Nein, danke. Die Dämmerung ist sehr angenehm.«

Es dämmerte bereits. Sie hörten, wie Mary die Treppe hinunterkam und in der Küche herumzuwühlen begann. Der Captain, dessen Pantoffeln im Schein des Feuers standen und dessen schwere Schultern im Schatten lagen, schnarchte von Zeit zu Zeit. Als es im Zimmer dunkel wurde, waren die Fenster Quadrate von klarem, blassem Violett, und die Fensterläden hörten auf zu klappern. Der Wind verschwand mit dem Tag. Alles war still, außer wenn Mary grob mit einer Pfanne klapperte. Mrs. Forrester flüsterte, sie sei verstimmt, weil ihr Liebster, Joe Pucelik, nicht hier war, um sie zu sehen. Sonntagabend war sein üblicher Abend, und Sonntag war der erste Tag des Schneesturms. »Wenn sie vernachlässigt wird, fängt ihr Zahn immer an zu schmerzen!«

»Nun, jetzt, wo ich vorbeigekommen bin, muss er kommen, sonst wird sie sauer sein.«

»Oh, er wird kommen!« Mrs. Forrester zuckte mit den Schultern. »Ich bin zwar blind und taub, aber ich bin mir sicher, dass es sich für ihn lohnen wird!« Nach ein paar Augenblicken erhob sie sich. »Komm«, flüsterte sie, »Mr. Forrester schläft schon. Lass uns den Hügel hinunterlaufen, da kann uns niemand aufhalten. Ich werde meine Gummistiefel anziehen. Keine Widerrede!« Sie legte ihre Finger auf seine Lippen. »Kein einziges Wort! Ich kann dieses Haus keinen Augenblick länger ertragen.«

Leise schlüpften sie aus der Haustür in die kalte Luft, die nach frisch gefallenem Schnee schmeckte. Ein klarer Bogen von blauer und rosafarbener Farbe malte sich im Westen über die verschüttete Stadt. Als sie die abgerundete, fast kahle Brust des Hügels erreichten, blieb Mrs. Forrester stehen, atmete tief ein und blickte hinunter auf die verwehten Wiesen und die steifen, blauen Pappeln.

»Oh, ist das trostlos!«, murmelte sie. »Stell dir vor, wir müssen auch den nächsten Winter hier bleiben … und den nächsten! Was soll aus mir werden, Niel?« Es lag Sorge, unverkennbare Angst in ihrer Stimme. »Du siehst, es gibt nichts für mich zu tun. Ich bekomme keine Bewegung. Ich laufe nicht Schlittschuh – das hatten wir in Kalifornien nicht, und meine Knöchel sind schwach. Im Winter habe ich immer getanzt, in Colorado Springs gibt es viel zu tanzen. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich es vermisse. Ich werde tanzen, bis ich achtzig bin. Ich werde die Walzer tanzende Großmutter sein! Das tut mir gut, ich brauche das.«

Sie stürzten sich in die Schneewehen und hielten erst wieder an, als sie die Holzbrücke erreichten.

»Siehst du, sogar der Bach ist gefroren! Ich dachte, fließendes Wasser friert nie ein. Wie lange wird es noch so sein?«

»Nicht mehr lange. In einem Monat werden Sie sehen, wie das Grün im Sumpf beginnt und sich über die Wiesen ausbreitet. Im Frühling ist es hier wunderschön. Und morgen können Sie wieder hinausgehen, Mrs. Forrester. Die Wolken werden dünner. Sehen Sie, da ist der Neumond!«

Sie drehte sich um. »Oh, ich habe ihn über die falsche Schulter gesehen!«

»Nein, haben Sie nicht. Sie haben ihn über meine gesehen.«

Sie seufzte und nahm seinen Arm. »Mein lieber Junge, deine Schultern sind nicht breit genug.«

Sofort tauchte vor seinen Augen das Bild eines Paares von Schultern auf, die sehr breit waren, unangenehm breit, gekleidet in einem aufgerebbelten Mantel und einem Astrachan-Kragen. Das Eindringen dieser dritten Person ärgerte ihn, als sie langsam den Hügel hinaufgingen.

Seltsamerweise war es die Frau von Captain Forrester, die Niel am meisten interessierte, und es war in der Beziehung zu ihrem Mann, in der er sie am meisten bewunderte.

In Anbetracht ihrer anderen reizvollen Eigenschaften prägte ihr Verständnis für einen Mann wie den Gleisbauer, ihre Loyalität ihm gegenüber, sie mehr als alles andere. Das, so empfand er, war Qualität. Etwas, das niemals abgenutzt oder schäbig werden konnte: Stahl aus Damaskus. Darauf ging seine Bewunderung für Mrs. Forrester zurück, so wie sie selbst, wie er meinte, darauf zurückging. Er mochte die Geschichten, auch die boshaften, über das fröhliche Leben, das sie in Colorado führte, und die jungen Männer, die sie jeden Winter um sich scharte. Manchmal dachte er an das Leben, das sie hätte führen können, seit er sie kannte, und an das Leben, das sie gewählt hatte. Er glaubte, dass der feinste Reiz ihrer Faszination von dieser Diskrepanz ausging. Sie machte sich über die Anstandsregeln, die sie einhielt, lustig und hatte den Zauber der Widersprüche geerbt.