Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 1 Kapitel 9

Nach drei Wochen war der Captain wieder auf den Beinen. Er schleppte seinen linken Fuß, und sein linker Arm war unsicher. Obwohl er seine Sprache wiedererlangt hatte, war sie dick und trübe; einige Wörter konnte er nicht deutlich aussprechen – überschlug sie, ließ eine Silbe aus. Deshalb vermied er das Sprechen noch mehr, als er es gewohnt war. Der Arzt sagte, dass er noch einige Jahre gut zurechtkommen würde, wenn nicht noch eine weitere Hirnläsion aufträte.

Im August sollte Niel nach Boston fahren, um mit dem Training für die Aufnahmeprüfungen am Massachusetts Institute of Technology zu beginnen, wo er Architektur studieren wollte. Er verschob den Abschied von den Forresters bis zum Tag vor seiner Abreise. Sein letzter Besuch war anders als alle anderen, die er bisher dort gemacht hatte. Sie begannen bereits, ihn wie einen jungen Mann zu behandeln. Er saß ziemlich steif im Salon, in dem er sich zuhause gefühlt hatte. Der Captain saß in seinem großen Sessel am Erkerfenster, im vollen Schein der Nachmittagssonne, und sagte wenig, aber sehr freundlich. Mrs. Forrester, die auf dem Sofa in der schattigen Ecke des Raumes saß, sprach über Niels Pläne und seine Reise.

»Stimmt es, dass Mary Pucelik im Herbst heiraten wird?«, fragte er sie. »Wer wird Ihnen dann helfen?«

»Im Moment niemand. Ben wird alles tun, was ich nicht tun kann. Mach dir um uns keine Sorgen. Wir werden einen ruhigen Winter verbringen, wie ein altes Landehepaar – so wie wir es sind«, sagte sie leichthin.

Niel wusste, dass sie dem Winter mit Schrecken entgegensah, aber er hatte sie noch nie so souverän gesehen wie jetzt, wo sie sich anschickte, die Dienerin ihres eigenen Hauses zu werden. Er hatte das Gefühl, das er sonst nie hatte, dass ihre Leichtigkeit sie etwas kostete.

»Vergiss uns nicht, aber blas kein Trübsal. Finde viele neue Freunde. Du wirst nie wieder zwanzig sein. Lade ein Chormädchen zum Essen ein – ein hübsches, wohlgemerkt! Kümmere dich nicht um dein Taschengeld. Wenn du in der Klemme steckst, können wir dir mit einem kleinen Scheck aushelfen, nicht wahr, Mr. Forrester?«

Der Captain schnaufte und sah amüsiert aus. »Ich glaube, das könnten wir, Niel, ich glaube schon. Bleib sitzen, mein Junge. Du musst zum Essen bleiben.«

Niel sagte, er könne nicht. Er hatte noch nicht fertig gepackt, und er wollte mit dem Morgenzug abreisen.

»Dann müssen wir noch eine Kleinigkeit zu uns nehmen, bevor du gehst.« Captain Forrester erhob sich schwerfällig, mit Hilfe seines Stocks, und ging ins Esszimmer. Er brachte die Karaffe zurück und füllte feierlich drei Gläser. Als er sein Glas erhob, hielt er wie immer inne und blinzelte.

»Glückliche Tage!«

»Glückliche Tage«, erwiderte Mrs. Forrester mit ihrem schönsten Lächeln, »und viel Erfolg für Niel!«

Der Captain und seine Frau begleiteten ihn zur Tür und standen gemeinsam auf der Veranda, wo er sie schon so oft gesehen hatte, um den scheidenden Gast zu verabschieden. Er ging gerührt und glücklich den Hügel hinunter. Als er die Brücke überquerte, sank seine Laune plötzlich. Würde dieser kalte Zweifel immer auf ihn lauern, dort unten im Schlamm, wo er eines Morgens seine Rosen hingeworfen hatte?

Er brannte darauf, ihr eine Frage zu stellen, um die Wahrheit aus ihr herauszubekommen und seine Gedanken zu beruhigen: Was machte sie mit all ihrer Vornehmheit, wenn sie mit einem Mann wie Ellinger zusammen war? Wo steckte sie sie weg? Und wenn sie sie weggesteckt hatte, wie konnte sie sich selbst zurückgewinnen und jemandem – sogar ihm – das Gefühl von gehärtetem Stahl geben, eine Klinge, die mit jedem fechten konnte und niemals zerbrach?