Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 2 Kapitel 10

Es dauerte zwei Jahre, bis Niel Herbert wieder nach Hause kam, und als er kam, war die erste Bekanntschaft, die er traf, Ivy Peters. Ivy stieg an einem der kleinen Bahnhöfe östlich von Sweet Water in den Zug, wo er an einem Fall arbeitete. Als er durch den Zug schlenderte, bemerkte er unter den Fahrgästen einen jungen Mann in einem grauen Flanellanzug, mit einem Seidenhemd in einem Blauton und einem Schlips in einem anderen. Nachdem er diese urbane Gestalt einige Sekunden lang von hinten betrachtet hatte, blickte Ivy mit hämischer Genugtuung auf seine eigene Kleidung hinunter. Es war ein heißer Tag im Juni, aber er trug den schwarzen Filzhut und den konfektionierten Wintermantel, den er als Junge immer getragen hatte. Er trat vor, die Hände in die Taschen gesteckt.

»Hallo, Niel. Ich dachte, ich könnte mich nicht irren.«

Niel blickte auf und sah das rote, bienenstichige Gesicht mit den zwei permanenten Grübchen, das ihn mit herablassender Heiterkeit anlächelte.

»Hallo, Ivy. Ich könnte mich in dir auch nicht irren.«

»Kommst du nach Hause, um ins Geschäft einzusteigen?«

Niel antwortete, dass er nur für die Sommerferien käme.

»Oh, du bist noch nicht mit der Schule fertig? Ich nehme an, es dauert länger, einen Architekten zu machen als einen Rechtsverdreher. Auch gut; in Sweet Water wird heutzutage nicht mehr viel gebaut. Du wirst viele Veränderungen vorfinden.«

»Willst du dich nicht setzen?« Niel deutete auf den Nebensitz. »Du praktizierst als Anwalt?«

»Ja, und noch ein paar andere Dinge. Man muss mehr als ein Eisen im Feuer haben, um bei uns über die Runden zu kommen. Nebenbei betreibe ich noch ein wenig Landwirtschaft. Ich habe das Weideland auf dem Forrester-Anwesen gepachtet. Ich habe den alten Sumpf trockengelegt und mit Weizen bepflanzt. Mein Bruder John macht die Arbeit, und ich bin der Boss. Es ist recht profitabel. Ich zahle ihnen eine gute Pacht, und die brauchen sie auch. Ich bezweifle, dass sie ohne sie auskommen könnten. Ihre einflussreichen Freunde scheinen ihnen nicht viel zu helfen. Erinnerst du dich noch an all die eingebildeten alten Knacker, die der Captain in seinem Demokratenwagen herumfuhr und für die er fässerweise Bourbon liefern ließ? Diese alten Knacker haben viel geblufft. Die Panik hat sie aus dem Spiel genommen. Die Forresters sind in der Welt abgestürzt wie alle anderen. Weißt du noch, wie der alte Mann uns Kinder immer eingeschüchtert hat und uns keine Waffe tragen ließ? Ich bin gerade gemein genug, dass ich jetzt lieber an diesem Bach schieße als irgendwo anders. Der alte Captain hatte nichts Böses im Sinn, aber er war größenwahnsinnig. Jetzt ist er glücklicher, weil er wie wir alle ist und nicht mehr jeden Tag sein Hemd wechseln muss.« Ivys blinzelnde grünliche Augen ruhten auf Niels Kurzwaren.

Niel bemerkte dies jedoch nicht. Er wusste, dass Ivy wollte, dass er sich enttäuscht zeigte, und er war entschlossen, dies nicht zu tun. Er erkundigte sich nach dem Gesundheitszustand des Captains, wobei er den Namen von Mrs. Forrester bewusst aus dem Gespräch heraushielt.

»Er ist nur noch halbwegs bei Kräften … scheint zufrieden zu sein. Sie kümmert sich gut um ihn, das muss ich ihr lassen. Sie sucht Trost, das war schon immer so, du weißt schon … zu viel französischer Brandy … aber sie vernachlässigt ihn nie. Ich mache ihr keinen Vorwurf. Richtige Arbeit ist hart für sie.«

Niel hörte diese Bemerkungen dumpf durch das Summen einer Idee hindurch. Er hatte das Gefühl, dass Ivy den Sumpf ebenso sehr trockengelegt hatte, um ihn und Mrs. Forrester zu ärgern, wie um das Land zurückzugewinnen. Außerdem schien er zu wissen, dass Ivy selbst bis zu diesem Moment nicht gemerkt hatte, wie sehr diese Überlegung auf ihm lastete. Er und Ivy hatten sich von Kindheit an verabscheut: blind, instinktiv, einander durch Antipathie erkennend, wie es feindliche Insekten tun. Durch die Trockenlegung des Sumpfes hatte Ivy ein paar Hektar von etwas ausgelöscht, das er hasste, auch wenn er es nicht benennen konnte, und hatte seine Macht über die Menschen behauptet, die diese unproduktiven Wiesen für ihren Müßiggang und ihre silberne Schönheit geliebt hatten.

Nachdem Ivy ins Raucherabteil gegangen war, saß Niel da, schaute auf die Windungen des Sweet Waters und spielte mit seiner Idee. Der Alte Westen war von Träumern besiedelt worden, von großherzigen Abenteurern, die bis zur Herrlichkeit unzweckmäßig waren. Eine höfliche Bruderschaft, stark im Angriff, aber schwach in der Verteidigung; die erobern, aber nicht halten konnte. Nun sollte das ganze riesige Gebiet, das sie erobert hatten, Männern wie Ivy Peters ausgeliefert werden, die nie etwas gewagt, nie etwas riskiert hatten. Sie würden die Illusion aufsaugen, die Morgenfrische vertreiben, den großen brütenden Geist der Freiheit, das großzügige, leichte Leben der Großgrundbesitzer ausrotten. Den Raum, die Farbe, die fürstliche Sorglosigkeit der Pioniere würden sie zerstören und in gewinnbringende Stücke zerlegen, wie die Streichholzfabrik den Urwald zersplittert. Auf dem ganzen Weg vom Missouri bis zu den Bergen würde diese Generation durchtriebener junger Männer, die durch harte Zeiten zu kleinlichem Wirtschaften erzogen worden waren, genau das tun, was Ivy Peters getan hatte, als er den Forrester-Sumpf trockenlegte.