Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 2 Kapitel 12

Niel hatte sich vorgenommen, in diesem Sommer im Hain der Forresters viel zu lesen, aber er ging nicht so oft hin, wie er es sich vorgenommen hatte. Das häufige Auftauchen von Ivy Peters in der Gegend ärgerte ihn. Ivy besuchte sehr oft seine neuen Weizenfelder im Unterland, und er nahm immer den alten Weg, der von dem, was einst der Sumpf war, das Steilufer hinauf und durch den Hain führte. Er konnte zu jeder Stunde auftauchen, die Hosen in die Stiefel gestopft, zwischen den Baumreihen entlang stapfend, als wäre er der Besitzer. Er schloss das Tor hinter dem Haus mit einem Knall und ging pfeifend durch den Hof. Oft blieb er an der Küchentür stehen, um Mrs. Forrester etwas zuzurufen. Das ärgerte Niel, denn zu dieser Morgenstunde, wenn sie ihre Hausarbeit erledigte, war Mrs. Forrester nicht gekleidet, um ihre Untergebenen zu empfangen. Es war eine Sache, den Präsidenten der Colorado & Utah en Déshabillé zu begrüßen, aber es war eine andere, mit einem grobschlächtigen Kerl wie Ivy Peters in ihrem Umhang und ihren Pantoffeln zu plaudern, die Ärmel hochgekrempelt und den Hals entblößt vor seinen kühlen, unverschämten Augen.

Manchmal schritt Ivy durch das Rosenbeet, in dem Captain Forrester in der Sonne saß, und ging an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen, als ob niemand da wäre. Wenn er überhaupt mit dem Captain sprach, dann so, als ob er sich an jemanden wandte, der unfähig war irgendetwas zu verstehen. »Hallo, Captain, haben Sie keine Angst, dass die Sonne Ihren Teint verdirbt?« oder »Nun, Captain, Sie müssen die Gebetsversammlungen dazu bringen, sich mit der Regenfrage zu befassen. Die Dürre ist verdammt schlecht für meinen Weizen.«

Eines Morgens, als Niel durch den Hain hinaufkam, hörte er Gelächter am Tor, und er sah Ivy mit seinem Gewehr, der mit Mrs. Forrester sprach. Sie war barhäuptig, ihre Röcke wehten im Wind, ihr Arm steckte im Griff eines großen Blecheimers, der neben ihr auf dem Zaun stand. Ivy stand mit dem Hut auf dem Kopf da, aber seine Haltung hatte etwas Unverwechselbares, das zeigt, dass ein Mann versucht, sich bei einer Frau beliebt zu machen. Er erzählte ihr eine lustige Geschichte, wahrscheinlich eine unanständige, denn sie brachte ihr unartigstes Lachen hervor, das etwas Nervöses und Aufgeregtes hatte, als würde er zu weit gehen. Am Ende seiner Geschichte brach Ivy selbst in sein Bauernwiehern aus. Mrs. Forrester wedelte mit dem Finger, nahm ihren Eimer und lief zurück ins Haus. Sie bückte sich ein wenig unter dem Gewicht des Eimers, aber Ivy bot ihr nicht an, ihn zu tragen. Er ließ sie damit davonstolpern, als sei sie ein Küchenmädchen, und das sei ihre Aufgabe.

Niel kam aus dem Hain heraus und blieb stehen, wo der Captain im Garten saß. »Guten Morgen, Captain Forrester. War das Ivy Peters, der gerade hier vorbeigekommen ist? Der Kerl hat nicht einmal die Manieren eines Schweins!«, platzte er heraus.

Der Captain zeigte auf Mrs. Forresters leeren Stuhl. »Setz dich, Niel, setz dich.« Er holte sein Taschentuch aus der Tasche und begann, seine Brille zu polieren. »Nein«, sagte er leise, »er ist nicht überaus höflich.«

Mehr als wenn er sich bitterlich beklagt hätte, ließ dieses zurückhaltende Eingeständnis spüren, wie sehr ihn Ivys Unhöflichkeit verletzt und gekränkt hatte. Es lag etwas sehr Trauriges und Hilfloses in seiner Stimme. Von seinesgleichen hatte er immer den Respekt bekommen, der ihm gebührte; von Leuten wie Ivy konnte er ihn einfordern, sie von seinem Grund verweisen oder aus seinen Diensten entlassen.

Niel setzte sich und rauchte eine Zigarre mit ihm. Sie unterhielten sich lange über den Bau der Black-Hills-Zweigstelle der Burlington. Im letzten Winter hatte Niel in Boston einen alten Minenbesitzer kennen gelernt, der in Deadwood lebte, als die Bahnlinie gebaut wurde. Als Niel ihn fragte, ob er Daniel Forrester gekannt habe, sagte der alte Herr: »Forrester? War das der mit der schönen Frau?«

»Das musst du ihr erzählen«, sagte der Captain und strich über die warme Oberfläche seiner Sonnenuhr. »Ja, in der Tat. Das musst du Mrs. Forrester erzählen.«

Eines Abends in der ersten Juliwoche, in einer Nacht mit herrlichem Mondlicht, konnte Niel weder lesen noch im Haus bleiben. Er ging ziellos die breite, leere Straße hinunter und überquerte den ersten Bach auf dem Steg. Die weiten, reifen Felder, das ganze Land, schienen wie ein schlafender Garten. Man beschritt die staubigen Straßen leise, um den tiefen Schlummer der Welt nicht zu stören.

In der Forresterstraße hing der Duft von süßem Klee. Seit Niel sich erinnern konnte, war er hier immer hoch und grün gewachsen; der Captain ließ ihn nie schneiden, bevor das Gras im Herbst gemäht war. Die schwarzen, pflaumenartigen Schatten der Pappeln fielen über die Straße und über Ivy Peters’ Weizenfelder. Als er weiterging, sah Niel eine weiße Gestalt auf der Brücke über dem zweiten Bach stehen, regungslos im klaren Mondlicht. Er eilte vorwärts. Mrs. Forrester blickte hinunter auf das Wasser, das hell über die Kieselsteine floss. Er trat neben sie. »Der Captain schläft?«

»Oh, ja, schon lange! Er schläft gut, dem Himmel sei Dank! Wenn ich ihn zugedeckt habe, muss ich mich um nichts mehr kümmern.«

Während sie so dastanden und sich mit leiser Stimme unterhielten, hörten sie eine schwere Tür auf dem Hügel zuschlagen. Mrs. Forrester schreckte auf und blickte über ihre Schulter zurück. Ein Mann trat aus dem Schatten des Hauses und kam die Auffahrt hinuntergeschtiefelt. Ivy Peters betrat die Brücke.

»Guten Abend«, sagte er zu Mrs. Forrester, ohne sie beim Namen zu nennen oder seinen Hut abzunehmen. »Wie ich sehe, haben Sie Gesellschaft. Ich war gerade oben und habe mir die alte Scheune angesehen, um zu sehen, ob die Boxen geeignet sind, um dort morgen Pferde unterzubringen. Ich werde morgen früh mit dem Mähen des Weizens beginnen, und wir müssen die Pferde mittags in Ihren Stall bringen. Wir würden zu viel Zeit verlieren, wenn wir sie in die Stadt zurückbringen.«

»Aber sicher doch. Die Pferde können in unsere Scheune gehen. Ich bin sicher, Mr. Forrester hätte nichts dagegen.« Sie sprach so, als hätte er sie um Erlaubnis gebeten.

»Oh!« Ivy zuckte mit den Schultern. »Die Männer fangen hier unten um sechs an. Ich komme erst gegen zehn, und um drei muss ich einen Kunden in meinem Büro treffen. Vielleicht könnten Sie mir etwas zu essen machen, um Zeit zu sparen.«

Seine Dreistigkeit brachte sie zum Lächeln. »Na gut, dann lade ich Sie zum Mittagessen ein. Wir essen um eins.«

»Danke. Das wird mir helfen.« Als hätte er sich selbst vergessen, lüftete er seinen Hut und ging, ihn in der Hand schwingend, die Gasse hinunter.

Niel sah ihm hinterher. »Warum lassen Sie zu, dass er so mit Ihnen spricht, Mrs. Forrester? Wenn Sie mich lassen, werde ich ihm eine Tracht Prügel verpassen und ihm beibringen, wie er mit Ihnen zu sprechen hat.«

»Nein, nein, Niel! Vergiss nicht, wir müssen mit Ivy Peters auskommen, wir müssen es einfach!« In ihrer Stimme lag ein Hauch von Sorge, und sie hielt ihn am Arm fest.

»Sie müssen sich von ihm nichts gefallen lassen, oder seine schlechten Manieren ertragen. Jeder andere würde Ihnen genauso viel für das Land zahlen wie er.«

»Aber er hat einen Pachtvertrag über fünf Jahre, und er könnte es uns sehr unangenehm machen, verstehst du nicht? Außerdem«, sie sprach hastig, »geht es um mehr als das. Er hat ein wenig Geld für mich in Wyoming investiert, in Land. Irgendwie bekommt er von den Indianern herrliches Land, fast umsonst. Sag deinem Onkel nichts davon; ich bezweifle nicht, dass es krumme Sachen sind. Aber der Richter ist wie Mr. Forrester; seine Methoden funktionieren heutzutage nicht mehr. Er wird uns nie aus den Schulden holen, mein Lieber! Er kann sich selbst nicht befreien. Ivy Peters ist furchtbar schlau, weißt du. Ihm gehört schon die halbe Stadt.«

»Nicht ganz«, sagte Niel grimmig. »Er hat eine ganze Menge Besitz in der Hand. Er wird die Notlage eines jeden ausnutzen. Sie wissen, dass er absolut skrupellos ist, nicht wahr? Warum haben Sie nicht Mr. Dalzell oder einen ihrer anderen alten Freunde ihr Geld für Sie anlegen lassen?«

»Oh, es war zu wenig! Nur ein paar hundert Dollar, die ich für den Haushalt gespart hatte. Sie würden es in etwas Sicheres investieren, zu sechs Prozent. Ich weiß, dass du Ivy nicht magst, und das weiß er auch! Vor dir ist er immer am schlimmsten. Er ist gar nicht so schlimm«, sie lachte nervös. »Er will uns wirklich aus dem Loch helfen, in dem wir stecken. Da er ständig kommt und geht, sieht er alles, und ich glaube wirklich, er hasst es, dass ich so hart arbeiten muss.«

»Wenn Sie das nächste Mal etwas zu investieren haben, lassen Sie es mich zu Mr. Dalzell bringen und es ihm erklären. Ich verspreche, mich so gut um Sie zu kümmern, wie Ivy Peters es kann.«

Mrs. Forrester nahm seinen Arm und zog ihn in die Gasse. »Aber, mein lieber Junge, du weißt nichts über Geschäfte dieser Art. Du bist in dieser Hinsicht nicht klug, das ist eines der Dinge, für die ich dich liebe. Ich bewundere keine Leute, die Indianer betrügen. Das tue ich wirklich nicht!« Sie schüttelte vehement den Kopf.

»Mrs. Forrester, Gaunerei ist nicht das Einzige, was im Geschäftsleben Erfolg hat.«

»Es gelingt aber schneller als alles andere«, murmelte sie abwesend. Sie gingen bis zum Ende der Straße und kehrten wieder um. Mrs. Forresters Hand legte sich fester um seinen Arm. Sie begann abrupt zu sprechen. »Sieh mal: zwei, drei Jahre mehr davon, und ich könnte immer noch nach Kalifornien zurückgehen – und wieder leben. Aber danach … Vielleicht denken die Leute, ich hätte mich niedergelassen, um in Würde alt zu werden, aber das stimmt nicht. Ich spüre eine solche Kraft in mir zu leben, Niel.« Ihre schlanken Finger umklammerten sein Handgelenk. »Sie ist gewachsen, indem ich zurückgehalten wurde. Letzten Winter war ich drei Wochen bei den Dalzells in Glenwood Springs (das habe ich Ivy Peters zu verdanken; er hat sich hier um alles gekümmert, und seine Schwester hat für Mr. Forrester den Haushalt geführt), und ich war von mir selbst überrascht. Ich konnte die ganze Nacht tanzen und fühlte mich nicht müde. Ich konnte den ganzen Tag reiten und am Abend für eine Dinnerparty bereit sein. Ich hatte natürlich keine Kleider, sondern alte Abendkleider mit meterweise Satin und Samt, die Mrs. Dalzells Näherin umgeschneidert hatte. Aber ich sah gut genug aus! Ja, ich sah gut aus. Ich weiß immer, wie ich aussehe, und ich sah gut aus. Die Männer fanden das auch. Ich sah glücklicher aus als jede andere Frau dort. Sie waren fast alle jünger, viel jünger. Aber sie wirkten langweilig, zu Tode gelangweilt. Nach ein oder zwei Gläsern Champagner schliefen sie ein und hatten nichts mehr zu sagen! Ich sehe nach dem ersten Glas immer besser aus, es gibt mir ein wenig Farbe, das ist das Einzige, was das tut. Ich nahm die Einladung der Dalzells mit einer Absicht an; ich wollte sehen, ob ich noch etwas habe, das sich zu retten lohnt. Und das habe ich, sage ich dir! Du würdest es kaum glauben, ich konnte es kaum glauben, aber ich habe es noch!«

Inzwischen hatten sie die Brücke erreicht, ein kahler weißer Boden im Mondlicht. Mrs. Forrester hatte ihr Tempo immer weiter beschleunigt. »Darum kämpfe ich also, um aus diesem Loch herauszukommen« – sie sah sich um, als wäre sie in einen tiefen Brunnen gefallen – »hieraus! Wenn ich hier monatelang allein bin, überlege ich und mache Pläne. Wenn das nicht so wäre …«

Als Niel zurück in sein Zimmer hinter der Kanzlei ging, hatte er Angst um sie. Wenn Frauen davon sprachen, dass sie sich noch jung fühlten, bedeutete das nicht, dass etwas zerbrochen war? Zwei oder drei Jahre, sagte sie. Er zitterte. Erst gestern hatte der alte Dr. Dennison ihm stolz erzählt, dass Captain Forrester vielleicht noch ein Dutzend Jahre leben werden würde. »Wir halten seinen allgemeinen Gesundheitszustand bemerkenswert aufrecht, und er war ursprünglich ein Mann aus Eisen.«

Welche Hoffnung gab es für sie? Er spürte noch immer ihre Hand auf seinem Arm, als sie ihn immer schneller die Straße hinauf trieb.