Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 2 Kapitel 13

Mehrere Wochen lang herrschte trockenes und sehr heißes Wetter, doch dann brachen Ende Juli Gewitter und sintflutartige Regenfälle über das Sweet Water Tal herein. Der Fluss trat über die Ufer, alle Bäche traten über die Ufer, und die Stoppeln der Weizenfelder von Ivy Peters standen unter Wasser. Ein großer See und zwei reißende Bäche trennten die Forresters nun von der Stadt. Ben Keezer ritt jeden Tag zu ihnen hinüber, um die Hausarbeit zu erledigen und ihnen die Post zu bringen. Eines Abends kam Ben mit seinem Regenmantel und seiner ledernen Posttasche gerade aus dem Postamt und wollte sein Pferd besteigen, als Niel Herbert ihn aufhielt und mit leiser Stimme fragte, ob er die Zeitung aus Denver bekommen habe.

»Oh, ja. Ich warte immer auf die Zeitungen. Sie hat sie gern abends zum lesen. Schätze, es ist ziemlich einsam da drüben.« Er schwang sich in den Sattel und preschte los. Niel ging langsam zum Hotel, um zu Abend zu essen. Er hatte etwas sehr Beunruhigendes in der Denver-Zeitung gefunden: Frank Ellingers Bild auf der Gesellschaftsseite, zusammen mit dem von Constance Ogden. Die beiden hatten gestern in Colorado Springs geheiratet und waren im Antlers abgestiegen.

Nach dem Abendessen zog Niel seinen Regenmantel an und machte sich auf den Weg zu den Forresters. Als er den ersten Bach erreichte, stellte er fest, dass der Steg vom jenseitigen Ufer weggespült worden war und schräg im Fluss lag, zerschlagen von der gelben Strömung, die ihn jeden Moment mitreißen konnte. Ohne Pferd konnte man die Furt nicht überqueren. Er blickte unschlüssig über die überschwemmten Böden. Das Haus war dunkel, in den Fenstern des Salons brannte kein Licht. Der Regen begann wieder zu fallen. Vielleicht wollte sie heute Nacht lieber allein sein. Er würde morgen vorbeischauen.

Er ging zurück in die Kanzlei und versuchte, es sich gemütlich zu machen, obwohl dort eine störende Unordnung herrschte. Der anhaltende Regen hatte einen der Schornsteine undicht gemacht, hatte Ströme von Ruß und schwarzem Wasser herabgelassen und den Ofen und den einst so schönen Brüsseler Teppich des Richters überflutet. Der Blechschmied war den ganzen Nachmittag dort gewesen, um herauszufinden, was mit dem Schornstein los war, und hatte eine neue Schublade aus Eisenblech geschnitten, die unter das Ofenrohr passte. Aber um sechs Uhr war er gegangen und hatte Werkzeug und Bleche zurückgelassen. Die Räume waren feucht und kalt. Niel zog sich einen dicken Pullover an, da er kein Feuer machen konnte, zündete die große Petroleumlampe an und setzte sich mit einem Buch hin.

Als er auf die Uhr sah, war es fast Mitternacht, und er hatte schon drei Stunden gelesen. Er würde noch eine Pfeife rauchen und dann ins Bett gehen. Kaum hatte er sie angezündet, hörte er schnelle, eilige Schritte auf dem hallenden Korridor draußen. Er war in Windeseile an der Tür und öffnete sie, bevor Mrs. Forrester klopfen konnte. Er packte sie am Arm und zog sie hinein.

Alles außer ihrem nassen, weißen Gesicht wurde von einem schwarzen Gummihut und einem Mantel verdeckt, der ihr viel zu groß war. Ströme von Wasser tropften vom Mantel, und als sie ihn öffnete, sah er, dass sie bis zur Taille durchnässt war – ihr schwarzes Kleid klebte wie ein schlammiger Brei an ihr.

»Mrs. Forrester«, rief er, »haben Sie etwa den Bach überquert! Er steht bis zum Bauch eines Pferdes in der Furt.«

»Ich bin über die Brücke gekommen, oder was davon noch übrig ist. Sie hat unter mir gewackelt, aber ich bin nicht schwer.« Sie warf ihren Hut ab und wischte sich mit den Händen das Wasser aus dem Gesicht.

»Warum haben Sie Ben nicht gebeten, sie auf seinem Pferd herüberzubringen? Hier, bitte schlucken Sie das.«

Sie schob seine Hand beiseite. »Warte. Nachher. Ben? Ich dachte erst, nachdem er weg war. Ich will das Telefon haben, ein Ferngespräch. Geben Sie mir Colorado Springs, das Antlers, schnell!«

Da bemerkte Niel, dass sie stark nach Alkohol roch; es dünstete über dem Geruch von Gummi und Bachschlamm und nassem Stoff. Sie schnappte sich das Tischtelefon, aber er nahm es ihr sanft ab.

»Ich werde für Sie anrufen, aber Sie sind jetzt nicht in der Lage zu reden; Sie sind außer Atem. Wollen Sie heute Abend wirklich reden? Sie wissen doch, dass Mrs. Beasley jedes Wort hören wird, das Sie sagen.« Mrs. Beasley war die Zentrale von Sweet Water und eine unermüdliche Berichterstatterin für alles, was über die Drähte ging.

Mrs. Forrester, die im Schreibtischstuhl seines Onkels saß, klopfte mit der Spitze ihres Gummistiefels auf den Teppich. »Beeil dich bitte«, sagte sie in jenem höflichen, warnenden Ton, vor dem selbst Ivy Peters Angst hatte.

Niel weckte die verschlafene Zentrale und meldete sich. »Sie fragt, mit wem Sie sprechen wollen?«

»Frank Ellinger. Sag ihr, dass das Büro von Richter Pommeroy ihn zu sprechen wünscht.«

Niel begann, Mrs. Beasley am anderen Ende zu beschwichtigen. »Nein, nicht die Geschäftsleitung, Mrs. Beasley, einer der Gäste. Frank Ellinger«, er buchstabierte den Namen. »Ja. Das Büro von Richter Pommeroy möchte mit ihm sprechen. Ich bin gleich hier. So bald Sie können, bitte.«

Er legte den Hörer weg. »Ich würde lieber etwas in der Stadtzeitung veröffentlichen, als es über Mrs. Beasley zu telefonieren.« Mrs. Forrester beachtete ihn nicht, sah ihn nicht an, sondern starrte an die Wand. »Ich verstehe nicht, warum Sie mich nicht angerufen und gebeten haben, Ihnen ein Pferd vorbeizubringen, wenn Sie das Gefühl hatten, dass Sie heute Nacht zu einem Ferngespräch müssen.«

»Ja; daran habe ich nicht gedacht. Ich wusste nur, dass ich hierher musste, und ich hatte Angst, dass mich etwas aufhalten könnte.« Sie beobachtete das Telefon, als ob es lebendig wäre. Ihre Augen waren zu harten Punkten geschrumpft. Ihre Brauen, die in einem spitzen Winkel zusammengezogen waren, zuckten immer wieder in dem Stirnrunzeln, das sie festhielt – das einzigartige Stirnrunzeln eines vom Alkohol oder von der Müdigkeit überwältigten Menschen, der sich mit der Kraft eines einzigen Vorsatzes am Bewusstsein festhält. Ihre blauen Lippen und die schwarzen Schatten unter den Augen ließen sie aussehen, als ob in ihrem Körper ein Gift am Werk wäre.

Sie warteten und warteten. Niel verstand, dass sie nicht wollte, dass er sprach. Ihr Geist kämpfte mit etwas, mit jedem Wimpernschlag schien sie sich dem neu zu stellen. Plötzlich erhob sie sich, als könne sie die Spannung nicht länger ertragen, ging zum Fenster und lehnte sich dagegen.

»Haben Sie Captain Forrester allein gelassen?« fragte Niel.

»Ja. Da drüben wird nichts passieren. Es passiert nie etwas!«, antwortete sie wild und rang die Hände.

Das Telefon klingelte. Mrs. Forrester stürzte auf den Schreibtisch zu, aber Niel nahm den Hörer in die linke Hand und versperrte ihr mit der rechten den Weg. »Versuchen Sie, ruhig zu bleiben, Mrs. Forrester. Wenn ich Ellinger erreiche, lasse ich Sie mit ihm sprechen – und die Zentrale wird jedes Wort hören, das Sie sagen, denken Sie daran.«

Nach einigen Gesprächen mit dem Büro in Colorado wies er ihr den Stuhl zu. »Setzen Sie sich und ich gebe es Ihnen. Er ist in der Leitung.«

Er wagte es nicht, sie allein zu lassen, obwohl es unangenehm genug war, ein Zuhörer zu sein. Er ging zum Fenster und stellte sich mit dem Rücken zum Schreibtisch, an dem sie saß.

»Bist du das, Frank? Ich bin es, Marian. Ich will dich nicht lange aufhalten … Du hast geschlafen? So früh? Das sieht dir gar nicht ähnlich. Du hast dich bereits gebessert, nicht wahr? So ist das in der Ehe, sagt man … Nein, ich war nicht sehr überrascht. Aber du hättest mich ins Vertrauen ziehen können. Hätte ich das nicht verdient?«

Eine lange, lauschende Pause. Niel starrte dumm auf das dunkle Fenster. Er hatte seine Nerven für wilde Vorwürfe gewappnet. Die Stimme, die er hinter sich hörte, war ihre charmanteste: spielerisch, liebevoll, intim, mit einem Schauer angenehmer Erregung, der ihre leichte Förmlichkeit erwärmte und durch die gewöhnlichen Worte hindurchbrannte wie die Farbe eines Opals. Er hielt einfach den Atem an, während sie weiterflatterte:

»Wohin werdet ihr in den Flitterwochen fahren? … Oh, das tut mir sehr leid! So bald … Du musst gut auf sie aufpassen. Grüße sie von mir … Ich denke, Kalifornien wäre zu dieser Jahreszeit genau das Richtige …«

So ging es einige Minuten lang weiter. Die Stimme, so schien es Niel, war die einer jungen, schönen, glücklichen Frau, die in ihrem Wohnzimmer saß und in einer stürmischen Nacht mit einer lieben Freundin in der Ferne sprach.

»Oh, ungewöhnlich gut, für mich. Komm vorbei und überzeuge dich sich selbst. Du wirst nächste Woche geschäftlich nach Omaha fahren, noch vor Kalifornien. Oh, ja, das wirst du! Schau rein zwischen den Zügen. Du weißt, dass du immer willkommen bist.«

Eine lange Pause. Ein Ausruf von Mrs. Forrester ließ Niel sich scharf umdrehen. Jetzt war es so weit! Ihre Stimme verfinsterte sich mit jedem Wort. »Ich glaube, ich habe dich verstanden. Du sprichst nicht von deinem eigenen Zimmer aus? Was, aus der Bürokabine? Oh, dann verstehe ich dich wirklich sehr gut!« Niel sah sich alarmiert um. Es war an der Zeit, sie aufzuhalten, aber wie? Die Stimme fuhr fort.

»Sicher spielen! Wann hast du jemals etwas anderes gespielt? Weißt du, Frank, die Wahrheit ist, dass du ein Feigling bist; ein großer, schwerfälliger Feigling. Hörst du mich? Ich will, dass du es hörst! … Du hast endlich eine sichere Sache, denke ich, sicher und pastös! Wie viel hast du denn damit bekommen? Einen großen Haufen, hoffe ich. Jetzt will ich dir die Wahrheit sagen: Ich will nicht, dass du hierher kommst. Ich will dich nie wieder sehen, solange ich lebe, und ich verbiete dir, mich zu besuchen, wenn ich tot bin. Ich will nicht, dass deine hasserfüllten Augen in mein totes Gesicht blicken. Hörst du mich? … Warum antwortest du mir nicht? … Wage es nicht, den Hörer aufzulegen, du Feigling! Oh, du riesiger … Frank, Frank, sag etwas! Er hat mich abgeschaltet, ich kann ihn nicht hören!«

Sie warf den Hörer weg, ließ den Kopf auf den Schreibtisch fallen und brach in heftiges, stöhnendes Schluchzen aus. Niel stand über ihr und wartete gelassen ab. Dieses eine Mal war er schnell genug gewesen; er hatte sie gerettet. In dem Moment, als die bebende Leidenschaft des Hasses und des Unrechts in ihre Stimme drang, hatte er die große Schere genommen, die der Blechner hinterlassen hatte, und den Draht hinter dem Schreibtisch durchgeschnitten. Ihre Vorwürfe waren nicht weiter als bis in dieses Zimmer gedrungen.

Als das Schluchzen aufhörte, berührte er ihre Schulter. Er schüttelte sie, aber sie reagierte nicht. Sie schlief, war in eine schwere Benommenheit gesunken. Ihre Hände und ihr Gesicht waren so kalt, dass er glaubte, es könne kein Tropfen warmes Blut mehr in ihrem Körper sein. Er trug sie in sein Zimmer, schnitt ihre durchnässte Kleidung auf, wickelte sie in seinen Bademantel und legte sie in sein Bett. Sie war völlig ohnmächtig. Er löschte das Licht, schloss sie ein, verließ das Gebäude und ging so schnell er konnte zum Haus von Richter Pommeroy. Er weckte seinen Onkel und erklärte ihm kurz die Situation.

»Kannst du dich anziehen und für den Rest der Nacht ins Büro gehen, Onkel? Jemand muss bei ihr sein. Und ich werde sofort zum Captain hinübergehen; er sollte sicher nicht allein gelassen werden. Wenn sie es über die Brücke geschafft hat, schaffe ich es auch. Übrigens, sie hat angefangen, wild zu reden, und ich habe das Telefonkabel hinter deinem Schreibtisch durchgeschnitten. Behalte es also im Auge. Das könnte in einer stürmischen Nacht wie dieser Ärger machen. Ich werde eine Kutsche besorgen und Mrs. Forrester morgen früh nach Hause bringen, bevor die Stadt aufwacht.«

Bei Tagesanbruch ging Niel in Captain Forresters Zimmer und erzählte ihm, dass seine Frau in der Nacht zu einem Ferngespräch geschickt worden war und dass er sie nun nach Hause bringen würde.

Der Captain lag ausgestreckt auf drei großen Kissen. Da sein Gesicht fett und entspannt geworden war, hatte sich seine Robustheit, in eine fast asiatische Sanftheit verwandelt. Er sah aus wie ein weiser, alter chinesischer Mandarin, der sich die phantastische Geschichte des jungen Mannes mit perfekter Gelassenheit anhörte, nur blinzelte und sagte: »Danke, Niel, danke.«

Als Niel auf dem Weg zur Pferdestation durch die schlafende Stadt ging, sah er die kleine, mollige Gestalt von Mrs. Beasley, die wie ein gekochter Pudding in einen blauen Kimono eingenäht war, durch das federleichte Spargelbeet hinter dem Telefonbüro watscheln. Sie war bereits nebenan gewesen, um ihrer Nachbarin Molly Tucker, der Näherin, die Geschichte ihrer aufregenden Nacht zu erzählen.