Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 2 Kapitel 14

Als Captain Forrester bald darauf einen weiteren Schlaganfall erlitt, waren sich Mrs. Beasley, Molly Tucker und ihre Freunde vollkommen einig, dass dies ein Urteil über seine Frau war. Kein Urteil hätte grausamer ausfallen können. Unter seiner Pflege, jetzt, da er hilflos war, ging Mrs. Forrester ganz und gar zu Grunde.

Selbst nachdem das Unglück über sie hereingebrochen war, hatte sie ihre alte Zurückhaltung beibehalten. Sie hatte nichts verlangt und nichts angenommen. Ihr Verhalten gegenüber den Stadtbewohnern war immer das gleiche: ungezwungen, herzlich und unpersönlich. Ihre eigenen Freunde waren schon vor langer Zeit weggezogen – alle außer Richter Pommeroy und Dr. Dennison. Wenn eine der Hausfrauen aus der Stadt zu Besuch kam, empfing sie sie im Salon, plauderte mit ihnen auf die lächelnde, unbekümmerte Art, die sie nie durchbrechen konnten. Sie hatten immer noch das Gefühl, sie müssten ihr bestes Kleid anziehen und ein Kartenetui bei sich tragen, wenn sie zu den Forresters gingen.

Aber nun, da der Captain hilflos war, änderte sich alles. Sie konnte die Neugierigen nicht länger zurückhalten. Die Stadtfrauen brachten Suppen und Pudding für den Invaliden. Als sie kamen, um die Nacht bei ihm zu verbringen, überließ sie ihnen das Haus. Sie war müde; so erschöpft, dass sie nichts mehr von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Die Mrs. Beasleys und Molly Tuckers hatten endlich ihre Chance. Sie gingen in Mrs. Forresters Küche so vertraut ein und aus, wie sie es in der Küche der jeweils anderen taten. Sie durchwühlten den Wäscheschrank, um weitere Laken zu finden, stöberten auf dem Dachboden und im Keller herum. Wie Ameisen durchkämmten sie das Haus, das Haus, in dem sie noch nie zuvor über den Salon hinausgekommen waren, und stellten fest, dass sie all die Jahre getäuscht worden waren. Es war überhaupt nichts Bemerkenswertes an diesem Ort! Die Küche war unpraktisch, das Waschbecken stank. Die Teppiche waren abgenutzt, die Vorhänge verblasst, die klobigen, altmodischen Möbel hätten sie nicht einmal geschenkt bekommen wollen, und die Schlafzimmer im Obergeschoss waren voller Staub und Spinnweben.

Richter Pommeroy bemerkte zu seinem Neffen, dass er diese Frauen noch nie so wach, so wichtig und zufrieden mit sich selbst gesehen hatte, wie jetzt, als er sie im Haus der Forresters herumwuseln sah. Die Krankheit des Captains hatte die Wirkung einer sozialen Erweckung, wie ein neuer Club oder eine Kirchengesellschaft. Die Kreaturen wurden immer dreister, und Mrs. Forrester hatte offenbar keine Kraft, sich zu wehren. Sie schuftete in der Küche, schlief halb bekleidet in einer der oberen Kammern, hielt sich mit schwarzem Kaffee und Brandy über Wasser. Alle Gitter waren heruntergelassen. Sie hatte aufgehört, sich um irgendetwas zu kümmern.

Wenn die Frauen durch die Straße kamen und gingen, hörte Niel manchmal Fetzen ihrer Unterhaltung.

»Warum hat sie nicht etwas von dem Silber verkauft? All diese Teller und Schüsseln, auf denen der Schatten der Jahre klebt!«

»Ich hätte nichts dagegen, etwas von ihrer Wäsche zu haben. Oben steht eine Truhe voll mit doppeltem Damast, jedes Tischtuch lang genug für zwei. Hast du jemals so etwas wie die Weingläser gesehen? Ich wette, in beiden Saloons zusammen gibt es nicht so viele. Wenn sie einen Ausverkauf macht, nachdem er weg ist, kaufe ich ein Dutzend Champagnergläser; die sind schön, um das Sorbet darin zu servieren.«

»Es sind neun Dutzend Gläser«, sagte Molly Tucker, »wenn man die für Bier und Whiskey mitzählt. Wenn es einen Verkauf gibt, möchte ich ein paar von den grünen mit den langen Stielen ersteigern, um sie als Kaminschmuck zu verwenden. Aber sie wird sie nie alle verkaufen, es sei denn, sie kann die Saloons dazu bringen, sie zu nehmen.«

Ed Elliotts Mutter lachte. »Sie wird sie nie verkaufen, solange sie etwas hat, mit dem sie sie füllen kann.«

»Der Keller wird eines Tages leer sein.«

»Ich schätze, es gibt immer genug, die es für solche wie sie besorgen. Jedesmal wenn ich dort bin, kann ich es riechen. Als ich neulich spät abends vorbeikam, war sie auf den Knien und schrubbte den Küchenboden. Ihre Augen waren glasig. Sie wischte die Stelle um den Eisschrank herum immer und immer wieder, bis ich nervös wurde. Ich sagte: ›Mrs. Forrester, ich glaube, Sie haben diesen Bereich schon mehrmals gewischt.‹«

»War sie verwirrt?«

»Kein bisschen! Sie lachte und sagte, sie sei oft geistesabwesend.«

Mrs. Elliotts Begleiter lachten ebenfalls und stimmten zu, dass »geistesabwesend« ein guter Ausdruck sei.

Niel erzählte seinem Onkel von diesem Gespräch. »Onkel«, erklärte er, »ich weiß nicht, wie ich zurück nach Boston gehen und die Forresters verlassen kann. Ich würde gern ein Jahr lang die Schule schwänzen und ihnen beistehen. Ich möchte dorthin gehen und mit diesen Klatschbasen aufräumen. Könntest du für ein paar Wochen im Hotel bleiben und mir Tom überlassen? Mit seiner Hilfe würde ich jede einzelne dieser Frauen die Straße hinunterschicken.«

Es wurde in aller Stille und auf der Stelle arrangiert. Tom wurde in die Küche gesteckt, und Niel selbst übernahm die Pflege. Er begegnete den Frauen mit Entschlossenheit: Sie waren sehr nett, aber jetzt war ihre Hilfe nicht mehr nötig. Der Arzt hatte gesagt, dass das Haus absolut ruhig sein müsse und dass der Kranke niemanden sehen dürfe.

Sobald es im Haus still war, ging Mrs. Forrester zu Bett und schlief fast eine ganze Woche lang. Dem Captain selbst ging es besser. An guten Tagen konnte er in den Rollstuhl gesetzt und in den Garten gerollt werden, um die Septembersonne und die letzten seiner Rosen zu genießen.

»Danke, Niel, danke, Tom«, sagte er oft, wenn sie ihn in seinen Stuhl hoben. »Ich schätze diese Ruhe sehr.« Wenn ein Tag kam, an dem sie meinten, er solle besser nicht hinausgehen, war er traurig und enttäuscht.

»Es ist besser, wenn er rausgeht, egal was«, sagte Mrs. Forrester. »Er sieht sich gern diesen Ort an. Das und seine Zigarre sind die einzigen Vergnügungen, die er noch hat.«

Als sie ausgeruht war und sich wieder im Griff hatte, nahm sie ihren Platz in der Küche ein, und Tom ging zurück zum Richter.

Nachts, wenn er allein war, wenn Mrs. Forrester zu Bett gegangen war und der Captain ruhig schlief, fand Niel eine Art feierliches Glück in seinen Nachtwachen. Es war schwer gewesen, dieses Jahr aufzugeben; die meisten seiner Klassenkameraden waren jünger als er. Es hatte ihn etwas gekostet, aber jetzt, wo er den Schritt getan hatte, war er froh. Während er die Nachtstunden verbrachte, erst auf einem, dann auf einem anderen Stuhl saß, las, rauchte, sich etwas zu essen holte, um wach zu bleiben, hatte er die Genugtuung derer, die den Glauben bewahren. Er war gern allein mit den alten Dingen, die ihm in seiner Kindheit so schön erschienen waren. Es waren immer noch die bequemsten Stühle der Welt, und nie würden ihm Bilder so gut gefallen wie »Wilhelm Tells Kapelle« und »Das Haus des tragischen Dichters«. Kein Kartentisch eignete sich so gut für Solitär wie dieser alte Tisch mit einer Steinplatte, einem Mosaik in Form eines Schachbretts, den einer der Freunde des Captains aus Neapel mitgebracht hatte. Kein anderes Haus konnte in seinem Leben den Platz dieses Hauses einnehmen.

Er hatte Zeit, an viele Dinge zu denken; an sich selbst und an seine alten Freunde hier. Ihm war aufgefallen, dass der Captain, wenn Mrs. Forrester ihrer Arbeit nachging, ihr oft zurief: »Maidy, Maidy«, und sie antwortete: »Ja, Mr. Forrester«, egal, wo sie sich gerade befand, aber ohne zu ihm zu kommen, so als wüsste sie, dass er, wenn er in diesem Ton nach ihr rief, nichts von ihr wollte. Vielleicht wollte er wissen, ob sie in der Nähe war, vielleicht mochte er es aber auch nur, ihren Namen zu rufen und ihre Antwort zu hören. Je länger Niel in diesen friedlichen letzten Tagen seines Lebens mit Captain Forrester zusammen war, desto mehr spürte er, dass der Captain seine Frau besser kannte, als sie sich selbst kannte, und dass er sie, da er sie kannte – um einen seiner eigenen Ausdrücke zu verwenden –, schätzte.