Eine verlorene Dame

Willa Cather (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Teil 2 Kapitel 17

Eines Morgens, als ein warmer Maiwind den Staub auf der Straße aufwirbelte, kam Mrs. Forrester lächelnd in das Büro von Richter Pommeroy und trug eine neue Frühlingshaube und einen kurzen schwarzen Samtumhang, der am Hals mit einem Veilchenstrauß befestigt war. »Bitte sei so nett und beachte meine neuen Kleider, Niel«, sagte sie aufmunternd. »Es sind die ersten, die ich seit vielen Jahren habe.«

Er sagte ihr, sie seien sehr hübsch.

»Bist du nicht froh, dass ich endlich welche habe?«, lächelte sie fragend durch ihren Schleier. »Ich habe das Gefühl, dass du mir heute nicht böse sein wirst und tun wirst, worum ich dich bitte. Es ist nichts Unangenehmes. Ich möchte, dass du am Freitagabend zum Essen kommst. Wenn du kommst, sind wir acht Personen, Annie Peters mitgezählt. Es sind alles Jungs, die du kennst, und wenn du sie nicht magst, solltest du! Ja, das solltest du!« Sie nickte ihm streng zu. »Da es dir wichtig ist was die Leute sagen, Niel: hast du keine Angst, dass man dich für einen Snob hält, nur weil du in Boston warst und ein wenig von der Welt gesehen hast? Du darfst nicht so steif sein, so – so überlegen! Das steht dir nicht, in deinem Alter.« Sie zog die Brauen zu einem gleichmäßigen Stirnrunzeln zusammen, das dem seinen so ähnlich war, dass er lachen musste. Er hatte ihr altes Talent für Nachahmung fast vergessen.

»Was wollen Sie von mir? Sie haben immer gesagt, es sei nicht gut, Leute zu fragen, die nicht miteinander verkehren«

»Du kannst gut genug mit ihnen verkehren, wenn du dir die Mühe machst. Und dieses Mal wirst du es tun, für mich. Das wirst du doch, oder?«

Als sie weg war, ärgerte sich Niel über sich selbst, dass er sich hatte überreden lassen.

Am Freitagabend war er der letzte Gast, der eintraf. Es war eine warme Nacht, nach einem heißen Tag. Die Fenster waren geöffnet, und der Duft des Flieders strömte in den düsteren Salon, in dem die Jungen auf Stühlen saßen, die zu groß für sie zu sein schienen. Im Esszimmer brannte eine Lampe, und dort stand Ivy Peters an der Anrichte und mixte Cocktails. Seine Schwester Annie war in der Küche und half der Gastgeberin. Mrs. Forrester kam kurz herein, um Niel zu begrüßen, entschuldigte sich dann und eilte zurück zu Annie. Durch die offene Tür sah er, dass das Silbergeschirr wieder auf dem Tisch stand, ebenso die Kerzenleuchter und die Blumen.

Die jungen Männer, die in der Dämmerung um sie herum saßen, würden den Unterschied nicht bemerken, dachte er, wenn sie ihren Tisch an diesem Morgen aus den Beständen von Wernz’ Porzellanladen eingerichtet hätte. Ihre Vorstellung von einem wirklich schönen Tafelservice, war ein von der Schwester oder der Geliebten »handbemaltes«. Jeder Junge saß mit überschlagenen Beinen da, ein hellbrauner Schuh schwang in der Luft und zeigte eine hellbraune Seidensocke. Sie sprachen über Kleidung; Joe Simpson, der gerade das Bekleidungsgeschäft seines Vaters geerbt hatte, wollte ihnen unbedingt sagen, was im Sommer angesagt sein würde.

Ivy Peters kam herein und schüttelte seine Drinks. »Ihr Typen seid wie ein Haufen Mädchen, die immer darüber reden, was sie anziehen werden und wie sie ihr Geld ausgeben können. Simpson würde nicht so schnell reich werden, wenn ihr alle eure Kleider so lange tragen würdet wie ich. Wann habe ich diesen Anzug bekommen, Joe?«

»Oh, ungefähr in dem Jahr, in dem ich die High School abgeschlossen habe, schätze ich!«

Alle lachten über Ivy. Ganz gleich, was er tat oder sagte, sie lachten – in Anerkennung seines allgemeinen Erfolgs.

Mrs. Forrester kam zurück und fächelte sich mit einem kleinen Sandelholzfächer Luft zu, und als sie erschien, erhoben sich die Jungen – erschrocken, wie man meinen könnte, weil es so plötzlich kam. So viel hatte sie ihnen jedenfalls beibringen können.

»Sind deine Cocktails fertig, Ivy? Du wirst einen Moment auf mich warten müssen, während ich mir die Nase pudere. Hätte ich gewusst, wie heiß es heute Abend wird, hätte ich wohl keinen Braten für euch gemacht. Ich bin brauner als die Enten. Du kannst sie trotzdem einschenken. Ich bleibe nicht lange.«

Sie verschwand in ihrem eigenen Zimmer, und die Jungen setzten sich mit der gleichen überraschenden Schnelligkeit. Ivy Peters trug das Tablett herum, und sie hielten ihre Gläser vor sich und warteten auf Mrs. Forrester. Als sie kam, nahm sie Niels Arm und führte ihn ins Esszimmer. »Hast du bemerkt«, flüsterte sie ihm zu, »wie sie ihre Gläser halten? Was machen sie mit einem kleinen Glas, dass es so vulgär aussieht? Niemand könnte ihnen je beibringen, es in die Hand zu nehmen und daraus zu trinken, nicht einmal, wenn Tee darin wäre!«

Laut sagte sie: »Niel, würdest du die Kerzen für mich anzünden? Und dann nimm bitte das Kopfende des Tisches. Kannst du Enten tranchieren?«

»Nicht so gut wie mein Onkel«, murmelte er und stellte vorsichtig einen Kerzenschirm zurück.

»Oder wie Mr. Forrester? Das frage ich nicht. Niemand kann mehr so gut tranchieren wie die Männer früher. Aber ich nehme an, du kannst sie auseinandernehmen? Der Platz zu deiner Rechten ist für Annie Peters. Sie bringt das Essen für mich herein. Nehmen Sie Platz, meine Herren!«, sagte sie mit einer kleinen spöttischen Verbeugung und dem Schwingen der Ohrringe.

Während Niel die Enten tranchierte, schlüpfte Annie in den Stuhl neben ihm, ihr natürlich gerötetes Gesicht glühte von der Hitze des Ofens. Sie war einige Jahre jünger als ihr Bruder, dem sie in allem bedingungslos gehorchte. Sie hatte einen extrem schlechten Teint und blassgelbes Haar mit weißen Strähnen darin, genau die Farbe von Melassetoffee, der gezogen wurde, bis er glänzte. Während des Essens sprach sie kein einziges Mal, außer um »Danke« oder »Nein, danke« zu sagen. Niemand außer Mrs. Forrester sprach viel, bis die erste Portion Ente verzehrt war. Die Jungen hatten noch nicht gelernt, zwei Dinge auf einmal zu tun. Sie hielten nur inne, um ihre Gastgeberin zu fragen, ob sie »das Gelee haben möchte«, oder um ihre Fragen zu beantworten.

Niel beobachtete Mrs. Forrester zwischen den Kerzen, wie sie einem nach dem anderen aufmunternd zunickte und versuchte, sie »aus der Reserve zu locken«, indem sie über die derben Witze von Roy Jones lachte oder Joe Simpson zu seiner neuen Würde als Geschäftsmann mit eigenem Unternehmen gratulierte. Die langen Ohrringe schwangen neben den dünnen Wangen, die, wie er fand, durch das Rouge, das sie kurz vor dem Abendessen aufgetragen hatte, nicht besser aussahen. Manchen Frauen verschönerte es, aber nicht sie – nicht heute Abend, wo ihre Augen vor Müdigkeit hohl waren und sie so verkniffen und erschöpft aussah, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er seufzte, als er daran dachte, wie viel Arbeit es bedeutete, ein solches Abendessen für acht Personen zu kochen – und ein Beefsteak mit Kartoffeln hätte ihnen besser geschmeckt! Sie mochten diese Art von Essen eigentlich gar nicht. Warum hat sie es getan? Wie würde sie sich heute Abend fühlen, wenn sie todmüde ins Bett sank, nachdem diese dummen Jungs sich verabschiedet hatten und ihre Schuhe sie den Hügel hinunter getragen hatten?

Sie aß nichts, sie verbrauchte ihre ganze Lebenskraft, um diese schwerfälligen Jungs zum Sprechen zu bringen. Niel spürte, dass er ihr helfen musste, oder es zumindest versuchen sollte. Mit Energie und Entschlossenheit wandte er sich an einen nach dem anderen; er versuchte es mit Baseball, Politik, Skandalen, der Maisernte. Sie antworteten ihm einsilbig oder mit Ausrufen. Bald merkte er, dass sie seine höflichen Bemerkungen nicht wollten; sie wollten mehr Ente und damit in Ruhe gelassen werden.

Jedenfalls war das Abendessen bald vorbei. Die Versuche der Gastgeberin, es zu verlängern, waren vergeblich. Der Salat und der gefrorene Pudding wurden ebenso schnell vertilgt wie der Braten. Die Gäste gingen in den Salon und zündeten sich Zigarren an.

Mrs. Forrester hatte die altmodische Vorstellung, dass Männer nach dem Essen allein sein sollten. Sie gesellte sich eine halbe Stunde lang nicht zu ihnen. Vielleicht hatte sie sich oben hingelegt, denn sie sah ein wenig erholt aus. Die Jungen unterhielten sich jetzt über einen Campingausflug, den Ed Elliot in den Bergen unternehmen wollte. Sie gaben ihm Ratschläge für die Campingausrüstung, für Forellenfliegen und für Mixturen um Moskitos abzuhalten.

»Ich sage euch, Jungs«, sagte Mrs. Forrester, nachdem sie ihnen einen Moment lang zugehört hatte, »wenn ich nach Kalifornien zurückkehre, möchte ich eine Sommerhütte in den Sierras haben, und ich lade euch alle ein, mich zu besuchen. Ihr werdet für eure Unterkunft arbeiten müssen, versteht ihr? Das Feuerholz schlagen, das Wasser holen, die Töpfe und Pfannen abwaschen und Fische für das Frühstück fangen. Ivy kann sein Gewehr mitbringen und für uns Wild schießen, und ich werde Brot in einem eisernen Topf backen, wie die alten Trapper, wenn ich es nicht verlernt habe. Werdet ihr kommen?«

»Und ob wir kommen! Ich nehme an, Sie kennen diese Berge auswendig«, sagte Ed Elliot.

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Dafür bräuchte man ein ganzes Leben, Ed, mehr als ein Leben. Die Sierras – es gibt kein Ende, und sie sind atemberaubend«

Niel wandte sich ihr zu. »Haben Sie den Jungs jemals erzählt, wie Sie Captain Forrester da draußen in den Bergen zum ersten Mal getroffen haben? Wenn sie die Geschichte noch nicht kennen, würde sie ihnen sicher gefallen.«

»Wirklich, würde sie? Nun, es war einmal, als ich ein sehr junges Mädchen war, da verbrachte ich den Sommer in einem Camp in den Bergen, mit Freunden meines Vaters.«

Damit begann sie, aber das war nicht der Anfang der Geschichte; vor langer Zeit hatte Niel von seinem Onkel gehört, dass der Anfang ein Skandal und ein Mord war. Als Marian Ormsby neunzehn Jahre alt war, war sie mit Ned Montgomery verlobt, einem schillernden jungen Millionär von der Goldküste. Wenige Wochen vor dem geplanten Hochzeitstermin wurde Montgomery in der Lobby eines Hotels in San Francisco vom Ehemann einer anderen Frau erschossen. Der anschließende Prozess sorgte für viel Aufsehen, und Marian wurde eilig vor neugierigen Blicken in die Berge geschickt, bis sich die Affäre gelegt hatte.

Heute Abend begann Mrs. Forrester mit »Es war einmal«. Sie saß an einem Ende des großen Sofas, ihre Pantoffeln auf einem Fußschemel, den Kopf im Schatten, und wirbelte die Luft vor ihrem Gesicht mit dem Sandelholzfächer auf, während sie sprach, wobei die Ringe an ihren weißen Fingern glitzerten. Sie erzählte ihnen, wie Captain Forrester, damals ein Witwer, ins Camp gekommen war, um den Partner ihres Vaters zu besuchen. Sie hatte ihn kaum bemerkt, denn sie war jeden Tag mit den jungen Männern unterwegs.

Eines Nachmittags hatte sie den jungen Fred Harney, einen unerschrockenen Bergsteiger, überredet, mit ihr die Felswand des Eagle Cliffs hinabzusteigen. Sie waren fast unten und kletterten über einen hervorstehenden Felsvorsprung, als das Seil riss und sie in die Tiefe stürzten. Harney stürzte auf die Felsen und war auf der Stelle tot. Das Mädchen wurde von einer Kiefer aufgefangen, die ihren Sturz abbremste. Beide Beine waren gebrochen, und sie lag die ganze Nacht über in der Schlucht in der bitteren Kälte, umspült vom eisigen Luftzug der Schlucht. Niemand im Camp wusste, wo die beiden vermissten Mitglieder der Gruppe zu suchen waren – sie hatten sich allein zu ihrem waghalsigen Abenteuer davongestohlen. Niemand machte sich Sorgen, denn Harney kannte alle Pfade und konnte sich nicht verirren.

Am Morgen jedoch, als sie immer noch vermisst wurden, zogen Suchtrupps los. Es war Captain Forresters Trupp, der Marian fand und sie über den unteren Pfad herausholte. Der Pfad war so steil und schmal, die Kurven um die Felsvorsprünge so scharf, dass es unmöglich war, sie auf einer Trage hinauszutragen. Die Männer trugen sie abwechselnd, wobei sie sich mit den Schultern an die Schluchtwände anschmiegten, während sie weiterschlichen. Mit ihren gebrochenen Beinen litt sie furchtbar und fiel immer wieder in Ohnmacht. Aber sie merkte, dass sie weniger litt, wenn Captain Forrester sie trug, und dass er selbst die gefährlichsten Stellen des Weges nahm.

»Ich konnte spüren, wie sein Herz pochte und seine Muskeln sich anspannten«, sagte sie, »als er sich und mich auf den Felsen balancierte. Ich wusste, wenn wir stürzten, würden wir zusammen untergehen; er würde mich niemals fallen lassen.«

Sie kehrten ins Camp zurück, und es wurde alles für sie getan, aber bis ein Chirurg aus San Francisco eintraf, waren ihre Brüche bereits dabei zusammenzuwachsen und mussten erneut gebrochen werden.

»Ich wollte, dass Captain Forrester mir die Hand hält, als der Chirurg mich operieren musste. Du erinnerst dich, Niel, er hat immer damit geprahlt, dass ich nie geschrien habe, wenn sie mich den Pfad hinauf trugen. Er blieb im Lager, bis ich anfangen konnte zu laufen, an seinem Arm festhaltend. Als er mich fragte, ob ich ihn heiraten wolle, musste er nicht zweimal fragen. Wundert dich das?« Sie blickte lächelnd in die Runde und strich sich abwesend mit den Fingerspitzen über die Stirn, als wolle sie etwas wegwischen – die Vergangenheit oder die Gegenwart, wer kann das schon sagen?

Die Jungen waren aufrichtig gerührt. Während sie ihre Fragen beantwortete, dachte Niel an das erste Mal, als er sie diese Geschichte erzählen hörte: Mr. Dalzell hatte mit einer Gruppe von Freunden aus Chicago Halt gemacht; Marshall Field und der Präsident der Union Pacific waren dabei, erinnerte er sich, und sie waren in Mr. Dalzells Privatwagen auf der Durchreise zur Jagd in den Black Hills. Immerhin hatte sie sich seit damals nicht so sehr verändert. Niel spürte heute Abend, dass der richtige Mann sie auch jetzt noch retten konnte. Sie war immer noch die Unbeugsame, die ihre alte Rolle durchzog, aber nur die Bühnenarbeiter waren übrig, um ihr zuzuhören. Alle, die an schönen Unternehmungen und glänzenden Anlässen teilgenommen hatten, waren fort.