Ethan Frome

Edith Wharton (Autorin), Denis Metzger (Übersetzung)

Inhaltsangabe

Kapitel 3

Am unteren Ende des Waldstücks waren noch einige Arbeiten zu erledigen, und Ethan war am nächsten Tag früh unterwegs.

Der Wintermorgen war so klar wie Kristall. Der Sonnenaufgang glühte rot am Himmel, die Schatten am Rande des Waldstücks waren dunkelblau, und jenseits der weißen, schimmernden Felder hingen die fernen Waldstücke wie Rauch.

In der Stille des frühen Morgens, wenn seine Muskeln zu ihrer gewohnten Aufgabe schwangen und seine Lungen sich durch lange Züge der Bergluft ausdehnten, konnte Ethan am klarsten denken. Er und Zeena hatten kein Wort miteinander gewechselt, nachdem die Tür ihres Zimmers geschlossen worden war. Sie hatte auf einem Stuhl neben dem Bett ein paar Tropfen aus einem Medizinfläschchen abgemessen und sich, nachdem sie sie geschluckt und ihren Kopf in ein Stück gelbes Flanell gewickelt hatte, mit abgewandtem Gesicht hingelegt. Ethan zog sich eilig aus und löschte das Licht, damit er sie nicht sehen konnte, als er seinen Platz an ihrer Seite einnahm.

Als er so dalag, konnte er hören, wie Mattie in ihrem Zimmer herumlief, und ihre Kerze, die ihren kleinen Strahl über den Flur schickte, zeichnete eine kaum wahrnehmbare Lichtlinie unter seiner Tür. Er hielt seine Augen auf das Licht gerichtet, bis es verschwand. Dann wurde der Raum vollkommen schwarz, und außer Zeenas asthmatischem Atmen war kein einziges Geräusch zu hören. Ethan fühlte, dass es viele Dinge gab, über die er nachdenken sollte, aber durch seine kribbelnden Adern und sein müdes Gehirn pochte nur ein Gefühl: die Wärme von Matties Schulter an seiner. Warum hatte er sie nicht geküsst, als er sie dort hielt? Ein paar Stunden früher hätte er sich diese Frage nicht gestellt. Selbst ein paar Minuten zuvor, als sie allein vor dem Haus gestanden hatten, hätte er nicht gewagt, daran zu denken, sie zu küssen. Aber seit er ihre Lippen im Lampenschein gesehen hatte, spürte er, dass sie ihm gehörten.

Jetzt, in der hellen Morgenluft, stand ihr Gesicht noch immer vor ihm. Es war Teil des Sonnenrots und des reinen Glitzerns auf dem Schnee. Wie sehr hatte sich das Mädchen verändert, seit sie nach Starkfield gekommen war. Er erinnerte sich, wie farblos sie an dem Tag ausgesehen hatte, als er sie am Bahnhof getroffen hatte. Und wie sie den ganzen ersten Winter über vor Kälte gezittert hatte, wenn die Nordstürme an den dünnen Dachschindeln rüttelten und der Schnee wie Hagel gegen die klappernden Fenster schlug!

Er hatte befürchtet, dass sie das harte Leben hassen würde, die Kälte und Einsamkeit, aber kein Anzeichen von Unzufriedenheit war ihr entgangen. Zeena vertrat die Ansicht, dass Mattie das Beste aus Starkfield machen musste, da sie keinen anderen Ort hatte, an den sie gehen konnte, aber das erschien Ethan nicht schlüssig. Zeena jedenfalls wandte diesen Grundsatz in ihrem eigenen Fall nicht an.

Das Mädchen tat ihm um so mehr leid, als das Unglück sie in gewisser Weise an sie ausgeliefert hatte. Mattie Silver war die Tochter eines Cousins von Zenobia Frome, der seine Sippe mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung erfüllt hatte, als er aus den Bergen nach Connecticut gekommen war, wo er ein Mädchen aus Stamford geheiratet und das florierende Medikamentengeschäft ihres Vaters übernommen hatte. Leider war Orin Silver, ein Mann mit weitreichenden Zielen, zu früh gestorben, um zu beweisen, dass der Zweck die Mittel heiligt. Seine Konten enthüllten lediglich, was die Mittel waren, und diese waren so beschaffen, dass es ein Glück für seine Frau und seine Tochter war, dass seine Bücher erst nach seiner beeindruckenden Beerdigung geprüft wurden. Seine Frau starb an den Folgen der Enthüllung, und die zwanzigjährige Mattie blieb allein zurück, um mit den fünfzig Dollar aus dem Verkauf ihres Klaviers auszukommen. Für diese Aufgabe waren ihre Fähigkeiten, obwohl vielfältig, unzureichend. Sie konnte einen Hut trimmen, Melassebonbons herstellen, »Curfew shall not ring to-night« rezitieren und »The Lost Chord« sowie ein Potpourri aus »Carmen« spielen. Als sie versuchte, ihr Betätigungsfeld in Richtung Stenografie und Buchhaltung zu erweitern, brach ihre Gesundheit zusammen, und sechs Monate auf den Beinen hinter dem Tresen eines Kaufhauses trugen nicht dazu bei, sie wiederherzustellen. Ihre nächsten Verwandten hatten ihre Ersparnisse in die Hände ihres Vaters gelegt, und obwohl sie nach seinem Tod der christlichen Pflicht, Böses mit Gutem zu erwidern, bereitwillig nachkamen, indem sie seiner Tochter alle ihnen zur Verfügung stehenden Ratschläge gaben, konnte von ihnen kaum erwartet werden diese durch materielle Hilfe zu ergänzen. Doch als Zenobias Arzt ihr empfahl, sich nach einer Haushaltshilfe umzusehen, sah die Sippe sofort die Chance, von Mattie eine Entschädigung zu verlangen. Zenobia zweifelte zwar an der Tüchtigkeit des Mädchens, aber die Freiheit, Fehler zu finden, ohne Gefahr zu laufen, sie zu verlieren, reizte sie, und so kam Mattie nach Starkfield.

Zenobias Tadel war von der stillen Art, aber deswegen nicht weniger eindringlich. In den ersten Monaten brannte Ethan abwechselnd vor Verlangen zu sehen, wie Mattie sich ihr widersetzte, und zitterte vor Angst vor dem Ergebnis. Dann entspannte sich die Situation. Die reine Luft und die langen Sommerstunden im Freien gaben Mattie Leben und Elastizität zurück, und Zeena, die mehr Zeit hatte, sich ihren komplexen Beschwerden zu widmen, wurde weniger wachsam gegenüber den Versäumnissen des Mädchens, sodass Ethan, der mit der Last seiner unfruchtbaren Farm und seines scheiternden Sägewerks zu kämpfen hatte, sich zumindest vorstellen konnte, dass in seinem Haus Frieden herrschte.

In Wirklichkeit gab es, selbst jetzt, keinen greifbaren Beweis für das Gegenteil, aber seit der letzten Nacht hing eine vage Furcht an seinem Horizont. Sie bildete sich aus Zeenas hartnäckigem Schweigen, aus Matties plötzlichem warnenden Blick, aus der Erinnerung an so flüchtige, unmerkliche Zeichen wie jene, die ihm an manch makellosen Morgen sagten, dass es noch vor der Nacht Regen geben würde.

Seine Furcht war so stark, dass er wie ein Mann versuchte, die Gewissheit hinauszuschieben. Der Transport war erst gegen Mittag beendet, und da das Holz an Andrew Hale, den Baumeister von Starkfield, geliefert werden sollte, war es für Ethan wirklich einfacher, Jotham Powell, den angeheuerten Mann, zu Fuß zur Farm zurückzuschicken und die Ladung selbst ins Dorf zu fahren. Er war auf die Baumstämme geklettert und saß rittlings auf ihnen, dicht über seinen zotteligen Grauen, als er eine Vision des warnenden Blicks hatte, den Mattie ihm am Abend zuvor zugeworfen hatte.

»Wenn es Ärger gibt, will ich dabei sein«, war seine vage Überlegung, als er Jotham den unerwarteten Befehl gab, das Gespann abzukoppeln und zurück zur Scheune zu führen.

Es war ein mühseliges Stapfen durch die schweren Felder nach Hause, und als die beiden Männer die Küche betraten, nahm Mattie gerade den Kaffee vom Herd und Zeena saß bereits am Tisch. Ihr Mann stutzte bei ihrem Anblick. Statt ihres üblichen Kattun-Umhangs und ihres gestrickten Schals trug sie ihr bestes Kleid aus braunem Merino, und über ihren dünnen Haarsträhnen, die noch immer die dichten Wellen der Kräuselstifte trugen, erhob sich eine harte, aufrechte Haube, von der Ethan am deutlichsten wusste, dass er dafür im Bettsbridge Emporium fünf Dollar bezahlen musste. Auf dem Boden neben ihr standen sein alter Reisekoffer und eine in Zeitungen eingewickelte Hutschachtel.

»Wo willst du denn hin, Zeena?«, rief er aus.

»Meine stechenden Schmerzen sind so schlimm, dass ich nach Bettsbridge fahre, um die Nacht bei Tante Martha Pierce zu verbringen und den neuen Arzt aufzusuchen«, antwortete sie in einem nüchternen Ton, als ob sie gesagt hätte, sie gehe in den Vorratsraum, um nach den Konserven zu sehen, oder auf den Dachboden, um die Decken zu prüfen.

Trotz ihrer sesshaften Gewohnheiten waren solche abrupten Entscheidungen in Zeenas Geschichte nicht ohne Beispiel. Zwei- oder dreimal zuvor hatte sie plötzlich Ethans Koffer gepackt und war nach Bettsbridge oder sogar Springfield aufgebrochen, um den Rat eines neuen Arztes einzuholen, und ihr Mann hatte diese Reisen wegen ihrer Kosten zu fürchten gelernt. Zeena kam immer mit teuren Medikamenten zurück, und bei ihrem letzten Besuch in Springfield hatte sie zwanzig Dollar für eine elektrische Batterie bezahlt, mit der sie nie etwas anfangen konnte. Doch im Moment war seine Erleichterung so groß, dass er alle anderen Gefühle verdrängte. Er hatte nun keinen Zweifel mehr daran, dass Zeena die Wahrheit gesagt hatte, als sie in der Nacht zuvor sagte, sie sei aufgestanden, weil sie sich »zu elend« zum Schlafen fühlte: Ihr abrupter Entschluss, einen Arzt aufzusuchen, zeigte, dass sie wie immer ganz in ihre Gesundheit vertieft war.

Als ob sie einen Protest erwartete, fuhr sie klagend fort: »Wenn du zu sehr mit dem Transport beschäftigt bist, kannst du mich wohl von Jotham Powell mit dem Fuchs hinüberfahren lassen, damit ich den Zug bei den Flats noch erwische.«

Ihr Mann hörte kaum, was sie sagte. In den Wintermonaten gab es keine Postkutsche zwischen Starkfield und Bettsbridge, und die Züge, die in Corbury Flats hielten, fuhren langsam und nur gelegentlich. Eine schnelle Berechnung zeigte Ethan, dass Zeena nicht vor dem nächsten Abend auf der Farm zurück sein konnte.

»Wenn ich angenommen hätte, dass du Einwände dagegen hättest, dass Jotham Powell mich rüberfährt ...“, begann sie wieder, als hätte sein Schweigen eine Ablehnung bedeutet. Kurz vor dem Aufbruch wurde sie immer von einem Wortschwall ergriffen. »Ich weiß nur«, fuhr sie fort, »dass ich nicht mehr lange so weitermachen kann. Die Schmerzen sind jetzt bis zu den Knöcheln, sonst wäre ich auf eigenen Füßen nach Starkfield gelaufen, statt dir zur Last zu fallen, und hätte Michael Eady gebeten, mich auf seinem Wagen zu den Flats mitzunehmen, wenn er den Zug trifft, der seine Lebensmittel bringt. Ich hätte zwei Stunden auf dem Bahnhof warten müssen, aber ich hätte es lieber getan, selbst bei dieser Kälte, als mir von dir sagen zu lassen ...«

»Natürlich wird Jotham dich hinfahren«, antwortete Ethan, als er sich aufraffen konnte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er Mattie ansah, während Zeena mit ihm sprach, und mühsam wandte er seinen Blick zu seiner Frau. Sie saß dem Fenster gegenüber, und das fahle Licht, das von den Schneebänken reflektiert wurde, ließ ihr Gesicht mehr als sonst gezeichnet und blutleer aussehen, schärfte die drei parallelen Falten zwischen Ohr und Wange und zeichnete missmutige Linien von ihrer dünnen Nase bis zu den Mundwinkeln. Obwohl sie nur sieben Jahre älter war als ihr Mann und er erst achtundzwanzig war, war sie bereits eine alte Frau.

Ethan versuchte, etwas zu sagen, das dem Anlass angemessen war, aber er hatte nur einen Gedanken: Die Tatsache, dass Zeena zum ersten Mal, seit Mattie bei ihnen wohnte, für eine Nacht weg sein würde. Er fragte sich, ob das Mädchen auch daran dachte.

Er wusste, dass Zeena sich fragen musste, warum er ihr nicht anbot, sie zu den Flats zu fahren und Jotham Powell das Holz nach Starkfield bringen ließ. Zuerst fiel ihm kein Vorwand ein, es nicht zu tun; dann sagte er: »Ich würde dich ja selbst fahren, aber ich muss noch das Geld für das Holz einsammeln.«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute er sie, nicht nur, weil sie gelogen waren – es gab keine Aussicht auf eine Barzahlung von Hale –, sondern auch, weil er aus Erfahrung wusste, wie unvorsichtig es war, Zeena am Vorabend eines ihrer therapeutischen Ausflüge in dem Glauben zu lassen, er sei im Geld. Im Moment jedoch bestand sein einzige Verlangen darin, die lange Fahrt mit ihr hinter dem alten Fuchs, der nie aus der Reihe tanzte, zu vermeiden.

Zeena antwortete nicht: Sie schien nicht zu hören, was er gesagt hatte. Sie hatte ihren Teller bereits beiseite geschoben und nahm einen Schluck aus einer großen Flasche, die an ihrem Ellbogen stand.

»Es hat mir zwar nichts genützt, aber ich werde es wohl aufbrauchen«, sagte sie und schob Mattie die leere Flasche zu: »Wenn du den Geschmack herausbekommst, reicht es für Essiggurken.«