Kapitel 2 London
Der Dampfer erreichte Southampton am frühen Nachmittag, und Carlton sicherte sich im Expresszug nach London ein besonderes Abteil für Mrs. Downs, ihre Nichte und sich selbst, sowie ein weiteres für ihr Dienstmädchen und Nolan. Es war ein wunderschöner Tag, und Carlton saß mit starrem Blick auf die vorbeiziehenden Felder und Dörfer und rief von Zeit zu Zeit erfreut aus über die weißen Straßen, die gefiederten Bäume und Hecken, die roten Dächer der Gasthäuser und die viereckigen Türme der Dorfkirchen.
»Hecken sind besser als Stacheldrahtzäune, nicht wahr?«, sagte er. »Sehen Sie das Mädchen, das Wildblumen von einer Hecke pflückt? Sie sieht aus, als würde sie für ein Foto für eine illustrierte Zeitung posieren. Von einem Stacheldrahtzaun könnte sie keine Blumen pflücken, oder? Und wahrscheinlich würde irgendwo auf der Straße ein Landstreicher auftauchen, der sie erschrecken könnte, und sehen Sie – der Kerl in Knickerbockern, der weiter unten auf der Straße am Pfosten lehnt. Ich bin sicher, er wartet auf sie, und da kommt eine Kutsche«, fuhr er fort. »Sehen die roten Räder nicht gut aus vor den Hecken? England ist ein hübsches kleines Land, nicht wahr? Wie ein privater Park oder ein Musterdorf. Ich bin froh, hierher zurückzukehren – ich bin froh, die Drei-und-Sechs-Schilder mit dem kleinen schrägen Strich zwischen den Schillingen und Pennies zu sehen. Ja, sogar die Dampfwalzen und der Mann mit der roten Fahne davor sind willkommen.«
»Ich nehme an«, sagte Mrs. Downs, »dass die Fahrt nach London so interessant ist, weil man so lange auf dem Meer gewesen ist. Das entlohnt mich immer für die ganze Reise. Ja«, sagte sie mit einem Seufzer, »trotz der Schilder mit den Medikamenten, die sie überall an der Straße aufstellen. Es ist schade, dass sie unsere schlechten Angewohnheiten übernehmen, anstatt unsere guten.«
»Sie sind ein bisschen langsam, wenn es darum geht, etwas zu übernehmen«, kommentierte Carlton. »Wussten Sie, Mrs. Downs, dass es in London immer noch so wenig elektrisches Licht gibt wie in Timbuktu? Ich habe einmal gesehen, wie in einer Westernstadt innerhalb von drei Tagen eine elektrische Lichtanlage installiert wurde; in einem Salon gab es über hundert Brenner, und der Ingenieur, der sie installierte, sagte mir im Vertrauen, dass …«
Was der Chefingenieur ihm im Vertrauen gesagt hatte, wurde nie enthüllt, denn in diesem Augenblick unterbrach ihn Miss Morris mit einem plötzlichen scharfen Ausruf.
»Oh, Mr. Carlton«, rief sie atemlos, »hören Sie sich das an!« Sie hatte eine der Dutzend Zeitungen gelesen, die Carlton am Bahnhof gekauft hatte, und schüttelte ihm nun eine davon zu, wobei ihr Blick auf die aufgeschlagene Seite gerichtet war.
»Meine liebe Edith«, mahnte ihre Tante, »Mr. Carlton hat uns gerade erzählt …«
»Ja, ich weiß«, rief Miss Morris lachend, »aber das interessiert ihn viel mehr als elektrische Lichter. Was glauben Sie, wer in London ist?«, rief sie, indem sie ihre Augen zu den seinen hob und eine Pause machte, um einen dramatischen Effekt zu erzielen. »Die Prinzessin Aline von Hohenwald!«
»Nein?«, rief Carlton.
»Doch«, antwortete Miss Morris und spottete über seinen Tonfall. »Hören Sie. ›The Queen’s Drawing-room‹… em … e … m …’zu ihrer Rechten war die Prinzessin von Wales’… em … m. Oh, ich kann es nicht finden – nein – ja, hier ist es. ›Neben ihr stand die Prinzessin Aline von Hohenwald. Sie trug ein Kleid aus weißer Seide, mit einer Schleppe aus silbernem Brokat, die mit Pelz besetzt war. Ornamente – Mineralien und Diamanten; – Viktoria und Albert, Jubiläums-Gedenkmedaille, Coburg und Gotha sowie Hohenwald und Grasse.‹«
»Du meine Güte!«, rief Carlton aufgeregt. »Stimmt das wirklich? Lassen Sie es mich bitte mit eigenen Augen sehen.«
Miss Morris reichte ihm die Zeitung, legte den Finger auf den Absatz und nahm eine andere in die Hand, um die Spalten zu durchsuchen.
»Sie haben recht«, sagte Carlton feierlich, »sie ist es, ganz sicher. Und hier bin ich; nur zwei Stunden von ihr entfernt und habe es nicht gewusst?«
Miss Morris stieß einen weiteren triumphierenden Schrei aus, als hätte sie eine Goldader entdeckt.
»Ja, und hier ist sie wieder«, sagte sie, »in der Gentlewoman: ›Das Kleid der Königin war wie immer schwarz, aber durch ein paar violette Bänder in der Haube aufgelockert, und Prinzessin Beatrice, die an der Seite ihrer Mutter saß, zeigte nur wenig von der Unruhe, die Prinzessin Enas Unfall verursacht hatte. Prinzessin Aline, auf dem Vordersitz, in einer hellbraunen Jacke und einer passenden Haube, gab einem Bild, das die Londoner gerne öfter sehen würden, den nötigen Schliff.«
Carlton saß mit auf die Knie gestützten Händen und vor Aufregung weit aufgerissenen Augen da. Er machte einen so ungewöhnlich verwirrten und erfreuten Eindruck, dass Mrs. Downs ihn und ihre Nichte anschaute, um eine Erklärung zu erhalten. »Die junge Dame scheint Sie zu interessieren«, sagte sie zögernd.
»Sie ist das reizendste Geschöpf der Welt, Mrs. Downs«, rief Carlton, »und ich wollte den ganzen Weg nach Grasse fahren, um sie zu sehen, und nun stellt sich heraus, dass sie hier in England ist, nur wenige Meilen von uns entfernt.« Er drehte sich um und winkte mit den Händen der vorbeiziehenden Landschaft. »Jede Minute bringt uns näher zusammen.«
»Und Sie haben es nicht in der Luft gespürt?«, spottete Miss Morris lachend. »Sie sind ein ziemlich armer Mann, wenn Sie sich von einem Mädchen sagen lassen, wo Sie die Frau finden, die Sie lieben.«
Carlton antwortete nicht, sondern starrte sie sehr ernst an und runzelte die Stirn. »Jetzt muss ich wieder von vorne anfangen und die Dinge neu regeln«, sagte er. »Wir hätten annehmen können, dass sie in London sein würde, wegen dieser königlichen Hochzeit. Es ist sehr schade, dass es nicht später in der Saison ist, dann wäre mehr los und man hätte mehr Chancen, sie zu treffen. Jetzt sind alle nur mit sich selbst beschäftigt, und da es sich um eine sehr exklusive Veranstaltung handelt, hat niemand, der nicht ein Cousin des Bräutigams oder ein Kaiser ist, eine Chance. Trotzdem, ich kann sie sehen! Ich kann sie ansehen, und das ist schon etwas.«
»Das ist auf jeden Fall besser als eine Fotografie«, sagte Miss Morris.
»Sie werden entweder im Buckingham Palace oder in Windsor sein, oder sie werden im Brown’s Halt machen«, sagte Carlton. »Alle Royals gehen ins Brown’s. Ich weiß nicht warum, es sei denn, weil es so teuer ist; oder vielleicht ist es so teuer, weil die Royals dorthin gehen, aber wenn sie nicht im Palast sind, werden sie auf jeden Fall dort sein, und ich werde auch dorthin gehen müssen.«
Als der Zug in die Victoria Station einfuhr, wies Carlton Nolan an, seine Sachen ins Brown’s Hotel zu bringen, sie aber erst auszuladen, wenn er angekommen war. Dann fuhr er mit den Damen zum Cox’s wo sie sich einrichteten. Er versprach, um eins zum Essen zurückzukehren und ihnen zu berichten, was er in seiner Abwesenheit entdeckt hatte. »Sie müssen mir dabei helfen, Miss Morris«, sagte er nervös. »Ich fange an zu spüren, dass ich ihrer nicht würdig bin.«
»Oh doch, das sind Sie!« sagte sie lachend. »Aber vergessen Sie nicht, dass ›es nicht um den Liebhaber geht, der kommt um zu werben, sondern um des Liebhabers ART zu werben‹, und dass ›ein schwaches Herz‹ – und der Rest davon.«
»Ja, ich weiß«, sagte Carlton zweifelnd; »aber es ist ein bisschen plötzlich, nicht wahr?«
»Oh, ich schäme mich für Sie! Sie sind verängstigt.«
»Nein, nicht verängstigt«, sagte der Maler. »Ich denke, es ist nur ein natürliches Gefühl.«
Als Carlton in die Albemarle Street einbog, sah er einen roten Teppich, der sich vom Eingang des Brown’s Hotel über den Bürgersteig bis zu einer Kutsche erstreckte, und einen barhäuptigen Mann, der offenbar mehreren Herren beim Einsteigen half. Diese und eine weitere Kutsche sowie Nolans Vierrad versperrten den Weg; doch ohne zu warten, bis sie aufgerückt waren, lehnte sich Carlton aus seiner Droschke und rief den barhäuptigen Mann an seine Seite.
»Hält der Herzog von Hohenwald in Ihrem Hotel?«, fragte er. Der barhäuptige Mann bejahte die Frage.
»In Ordnung, Nolan«, rief Carlton. »Sie können die Koffer mitnehmen.«
Als er dies hörte, beeilte sich der barhäuptige Mann, Carlton beim Aussteigen zu helfen. »Das war der Herzog, der gerade weggefahren ist, Sir, und das«, sagte er und deutete auf drei vermummte Gestalten, die in einen zweiten Wagen stiegen, »sind seine Schwestern, die Prinzessinnen.«
Carlton blieb auf halbem Wege stehen, mit einem Fuß auf der Stufe und dem anderen in der Luft.
»Zum Teufel, das sind sie!«, rief er aus, »und welche ist –», begann er eifrig, besann sich dann aber und ließ sich auf die Polster der Droschke zurückfallen.
Er stürmte so aufgeregt in das kleine Esszimmer von Cox’s, dass zwei alte, ehrwürdige Herren, die dort aßen, mit offenem Mund und erstaunter Missbilligung dasaßen. Mrs. Downs und Miss Morris waren gerade die Treppe hinuntergekommen.
»Ich habe sie gesehen!« rief Carlton ekstatisch; »nur eine halbe Stunde in der Stadt, und schon habe ich sie gesehen!«
»Nein, wirklich?«, rief Miss Morris aus. »Und wie hat sie ausgesehen? Ist sie so schön, wie Sie erwartet haben?«
»Nun, das kann ich noch nicht sagen«, antwortete Carlton.
»Es waren drei von ihnen, und sie waren alle vermummt, und welche von den dreien sie war, weiß ich nicht. Sie war nicht beschriftet, wie auf dem Bild, aber sie war da, und ich habe sie gesehen. Die Frau, die ich liebe, war eine von den dreien, und ich habe ein Zimmer im Hotel gebucht, und in dieser Nacht sind wir beide unter demselben Dach untergebracht.«
»Der Lauf der wahren Liebe verläuft bei Ihnen sicherlich reibungslos«, sagte Miss Morris, als sie sich an den Tisch setzten. »Was ist Ihr nächster Schritt? Was haben Sie jetzt vor?«
»Der Rest ist ganz einfach«, sagte Carlton. »Morgen früh werde ich zur Row gehen; dort werde ich sicher jemanden finden, der alles über sie weiß – wohin sie gehen, mit wem sie sich treffen und welche Verpflichtungen sie vielleicht haben. Dann wird es nur noch darum gehen, einen Freund im Haushalt oder in einer der Botschaften aufzusuchen, der mich vorstellen kann.«
»Oh«, sagte Miss Morris im Ton tiefster Enttäuschung, »das ist aber ein so gewöhnliches Ende! Sie haben so romantisch angefangen. Könnten Sie sie nicht auf eine weniger konventionelle Weise kennenlernen?«
»Ich fürchte nicht«, sagte Carlton. »Sehen Sie, ich möchte sie unbedingt kennenlernen, und zwar sehr bald, und die schnellste Art, sie kennenzulernen, ob romantisch oder nicht, ist mir kein bisschen zu schnell. Es wird genug Romantik geben, nachdem ich vorgestellt wurde, wenn es nach mir geht.«
Aber es sollte nicht nach Carlton gehen, denn er hatte übersehen, dass es ebenso viele Menschen braucht um sich vorzustellen, wie um ein Geschäft zu machen, und er hatte den Herzog von Hohenwald in seinen Überlegungen vernachlässigt.
Am nächsten Morgen traf er viele Bekannte bei der Row; sie luden ihn zum Mittagessen ein und brachten ihre Pferde zum Geländer. Er tätschelte ihnen die Köpfe und lenkte das Gespräch auf die königliche Hochzeit und über sie auf die Hohenwalds. Er erfuhr, dass sie am Vorabend an einem Empfang in der deutschen Botschaft teilgenommen hatten, und es war einer der Sekretäre dieser Botschaft, der ihm mitteilte, dass sie an diesem Morgen mit dem Elf-Uhr-Zug nach Paris fahren wollten.
»Nach Paris!«, rief Carlton bestürzt. »Was! Alle?«
»Ja, alle, natürlich. Warum?«, fragte der junge Deutsche. Aber Carlton war schon über die Straße nach Piccadilly geflitzt und winkte mit seinem Stock nach einer Droschke.
Nolan traf ihn an der Tür vom Brown’s Hotel mit besorgter Miene.
»Ihre königlichen Hoheiten sind abgereist, Sir«, sagte er. »Aber ich habe Ihre Koffer gepackt und sie zum Bahnhof geschickt. Soll ich ihnen folgen, Sir?«
»Ja«, sagte Carlton. »Folgen Sie den Koffern und folgen Sie den Hohenwalds. Ich werde mit dem Clubzug um vier Uhr nachkommen. Treffen Sie mich am Bahnhof, und sagen Sie mir, in welches Hotel sie gegangen sind. Wartet…; wenn ich Sie verpasse, können Sie mich im Hotel Continental finden; wenn sie aber direkt durch Paris fahren, gehen Sie mit ihnen und telegrafieren mir hier und ins Continental. Telegrafieren Sie an jeder Station, damit ich Ihren Weg verfolgen kann. Haben Sie genug Geld?«
»Habe ich, Sir – genug für eine lange Reise, Sir.«
»Nun, Sie werden es brauchen«, sagte Carlton grimmig. »Das wird eine lange Reise werden. Es ist jetzt zwanzig Minuten vor elf; Sie werden sich beeilen müssen. Haben Sie meine Rechnung hier bezahlt?«
»Das habe ich, Sir«, sagte Nolan.
»Dann gehen Sie los und verlieren Sie diese Leute nicht wieder aus den Augen.«
Carlton kümmerte sich um einige geschäftliche Angelegenheiten und aß dann mit Mrs. Downs und ihrer Nichte zu Mittag. Er hatte sie sehr lieb gewonnen und bedauerte es, sie aus den Augen zu verlieren, tröstete sich aber mit dem Gedanken, sie wenigstens ein paar Tage in Paris zu sehen. Er schätzte, dass er einige Zeit dort bleiben würde, denn er glaubte nicht, dass Prinzessin Aline und ihre Schwestern durch diese Stadt fahren würden, ohne in den Geschäften der Rue de la Paix Halt zu machen.
»Nicht alle Frauen sind Prinzessinnen«, argumentierte er, »aber alle Prinzessinnen sind Frauen.«
»Wir werden am Mittwoch in Paris sein«, sagte Mrs. Downs. »Der Orient-Express verlässt Paris zweimal in der Woche, montags und donnerstags, und wir haben uns für den nächsten Donnerstag ein Apartment genommen und werden direkt nach Konstantinopel weiterreisen.«
»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie müssten dort eine Menge Kleider kaufen?« wandte Carlton ein.
Mrs. Downs sagte, dass sie das auf dem Heimweg tun würden.